Peter Handke:

„Beinahe alle Bilder und Berichte der letzten vier Jahre kamen ja von der einen Seite der Fronten oder Grenzen, und wenn sie zwischendurch auch einmal von der anderen kamen, erschienen Sie mir, mit der Zeit mehr und mehr, als bloße Spiegelungen der üblichen, eingespielten Blickseiten als Verspiegelungen in unseren Sehzellen selber, und jedenfalls nicht als Augenzeugenschaft. Es drängte mich hinter den Spiegel; es drängte mich zur Reise in das mit jedem Artikel, jedem Kommentar, jeder Analyse unbekanntere und erforschungs- oder auch bloß anblickswürdige Land Serbien.“ (S. 13) (6)
Dies stellt für derzeitige Seh- und Wissensverhältnisse einen Skandal, möglicherweise auch so etwas, was mit dem heutigen Modewort „Tabubruch“ einmal gemeint war, dar.
Über Serbien und die Serben weiß hierzulande jeder Bescheid:
Während die kroatischen und muslimischen Bewohner des ehemaligen Jugoslawien in Dörfern und Städten leben, wohnen die Serben in „Hochburgen“, ihre oder ihnen nahestehende Politiker sind „Serbenführer“, die der anderen ganz gewöhnliche Präsidenten, Minister etc.  Als eine besonders unheimliche, weil mit Serben im Bunde stehend Erscheinung ist die des „abtrünnigen Moslemführers“ noch gut in Erinnerung. Politische und staatliche Institutionen der Serben, zumindest der bosnischen, sind grundsätzlich „selbsternannt“, d.h. „wir“ erkennen sie höchstens als Ziele friedensstiftender Bombardierungen an.  Sind Serben nicht bereit, als gesetzlich definierte Bürger niederer Kategorie in den kroatischen und muslimischen Sezessionsstaaten zu leben und nehmen ihrerseits das den anderen großmütig zugestandene Recht auf Sezession in Anspruch, sind sie „Besatzer“ der Gegend, in der sie mehrheitlich leben. Der aus serbischen Waffen kommende Tod ist „Völkermord“, der aus den Geschützen der anderen ein Ergebnis legitimer Verteidigungsanstrengungen.  Wenn in Sarajewo serbische Unterhändler von Moslems gekidnapt werden, wird das als „Verhaftung von Kriegsverbrechern“ gewürdigt, schnappt sich im Gegenzug die serbische Seite einen oder mehrere Moslems, erfolgt selbstverständlich die Verurteilung dieser „willkürlichen Verschleppung“. Ziehen Serben es schließlich vor, sich aus dem Staub zu machen, weil „wir“ uns mit den bosnischen Muslimen darauf geeinigt haben, daß mindestens jeder vierte Serbe ein „Kriegsverbrecher“ ist, der eigentlich verurteilt gehört, doch um des Friedens willen eventuell noch einmal eine Chance bekommen könnte, so geschieht dieser Rückzug aus Heimtücke oder auf „Anordnung“ einer allerhöchsten Serbenführerinstanz, die damit den „Friedensprozess“ schädigen will.
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„Aber war es nicht schon vor den Bildern von den Flüchtlingstrecks aus der Krajina diesem und jenem fernen Zuseher auffällig, wie die bis dahin fast verschwindenden serbischen Leidtragenden in der Regel grundanders in Bild, Ton und Schrift kamen als die Hekatomben der anderen? Ja, auf den Fotos usw. von den paar ausnahmsweise nachrichtenwürdigen ersteren erschienen mir diese in der Tat als ,verschwindend`, so im alleraugenfälligsten Gegensatz zu ihren Kummer-und Trauergenossen aus den beiden übrigen Kriegsvölkern: Diese, so war es jedenfalls nicht selten zu sehen, ,posierten` zwar nicht, doch waren sie, durch den Blick- oder Berichtsblickwinkel, deutlich in eine Pose gerückt: wohl wirklich leidend, wurden sie gezeigt in einer Leidenspose. Und im Lauf der Kriegsberichtsjahre, dabei wohl weiterhin wirklich leidend, und wohl mehr und mehr, nahmen sie für die Linsen und Hörknöpfe der internationalen Belichter und Berichter, von diesen inzwischen angeleitet, gelenkt, eingewinkt (,He, Partner!), sichtlich wie gefügig die fremdgewünschten Marterminen und -haltungen ein. Wer sagt mir, daß ich mich irre oder gar böswillig bin, wenn ich so zu der Aufnahme des lauthals weinenden Gesichts einer Frau, Close Up hinter den Gittern eines Gefangenenlagers, das gehorsame Befolgen der Anweisung des Photographen der internationalen Presseagentur außerhalb des Lagerzaunes förmlich mitsehe und selbst an der Art, wie die Frau sich an den Draht klammert, etwas von dem Bilderkaufmann ihr Vorgezeigtes.  Mag sein, ja, ich irre mich, [...] doch weshalb habe ich solche gar sorgfältig kadrierten, ausgeklügelten und eben wie gestellten Aufnahmen noch keinmal jedenfalls nicht hier, im ,Westen` von einem serbischen Kriegsopfer zu Gesicht bekommen? Weshalb wurden solche Serben kaum je in Großaufnahme gezeigt, und kaum je einzeln, sondern fast immer nur als Grüppchen, und fast immer nur im Mittel- oder fern im Hintergrund, eben verschwindend, und auch kaum je, anders als ihre kroatischen oder muselmanischen Mitleidenden, mit dem Blick voll und leidensvoll in die Kamera, vielmehr seit-oder bodenwärts, wie Schuldbewußte?“ (S.40-42)