Beinahe alle Bilder und Berichte der letzten vier Jahre kamen ja von
der einen Seite der Fronten oder Grenzen, und wenn sie zwischendurch auch
einmal von der anderen kamen, erschienen Sie mir, mit der Zeit mehr und
mehr, als bloße Spiegelungen der üblichen, eingespielten Blickseiten
als Verspiegelungen in unseren Sehzellen selber, und jedenfalls nicht als
Augenzeugenschaft. Es drängte mich hinter den Spiegel; es drängte
mich zur Reise in das mit jedem Artikel, jedem Kommentar, jeder Analyse
unbekanntere und erforschungs- oder auch bloß anblickswürdige
Land Serbien. (S. 13) (6)
Dies stellt für derzeitige Seh- und Wissensverhältnisse einen
Skandal, möglicherweise auch so etwas, was mit dem heutigen Modewort
Tabubruch einmal gemeint war, dar.
Über Serbien und die Serben weiß hierzulande jeder Bescheid:
Während die kroatischen und muslimischen Bewohner des ehemaligen
Jugoslawien in Dörfern und Städten leben, wohnen die Serben in
Hochburgen, ihre oder ihnen nahestehende Politiker sind Serbenführer,
die der anderen ganz gewöhnliche Präsidenten, Minister etc.
Als eine besonders unheimliche, weil mit Serben im Bunde stehend Erscheinung
ist die des abtrünnigen Moslemführers noch gut in Erinnerung.
Politische und staatliche Institutionen der Serben, zumindest der bosnischen,
sind grundsätzlich selbsternannt, d.h. wir erkennen
sie höchstens als Ziele friedensstiftender Bombardierungen an.
Sind Serben nicht bereit, als gesetzlich definierte Bürger niederer
Kategorie in den kroatischen und muslimischen Sezessionsstaaten zu leben
und nehmen ihrerseits das den anderen großmütig zugestandene
Recht auf Sezession in Anspruch, sind sie Besatzer der Gegend,
in der sie mehrheitlich leben. Der aus serbischen Waffen kommende Tod ist
Völkermord, der aus den Geschützen der anderen ein Ergebnis
legitimer Verteidigungsanstrengungen. Wenn in Sarajewo serbische
Unterhändler von Moslems gekidnapt werden, wird das als Verhaftung
von Kriegsverbrechern gewürdigt, schnappt sich im Gegenzug die
serbische Seite einen oder mehrere Moslems, erfolgt selbstverständlich
die Verurteilung dieser willkürlichen Verschleppung. Ziehen
Serben es schließlich vor, sich aus dem Staub zu machen, weil wir
uns mit den bosnischen Muslimen darauf geeinigt haben, daß mindestens
jeder vierte Serbe ein Kriegsverbrecher ist, der eigentlich verurteilt
gehört, doch um des Friedens willen eventuell noch einmal eine Chance
bekommen könnte, so geschieht dieser Rückzug aus Heimtücke
oder auf Anordnung einer allerhöchsten Serbenführerinstanz,
die damit den Friedensprozess schädigen will.
....
....
Aber war es nicht schon vor den Bildern von den Flüchtlingstrecks
aus der Krajina diesem und jenem fernen Zuseher auffällig, wie die
bis dahin fast verschwindenden serbischen Leidtragenden in der Regel grundanders
in Bild, Ton und Schrift kamen als die Hekatomben der anderen? Ja, auf
den Fotos usw. von den paar ausnahmsweise nachrichtenwürdigen ersteren
erschienen mir diese in der Tat als ,verschwindend`, so im alleraugenfälligsten
Gegensatz zu ihren Kummer-und Trauergenossen aus den beiden übrigen
Kriegsvölkern: Diese, so war es jedenfalls nicht selten zu sehen,
,posierten` zwar nicht, doch waren sie, durch den Blick- oder Berichtsblickwinkel,
deutlich in eine Pose gerückt: wohl wirklich leidend, wurden sie gezeigt
in einer Leidenspose. Und im Lauf der Kriegsberichtsjahre, dabei wohl weiterhin
wirklich leidend, und wohl mehr und mehr, nahmen sie für die Linsen
und Hörknöpfe der internationalen Belichter und Berichter, von
diesen inzwischen angeleitet, gelenkt, eingewinkt (,He, Partner!), sichtlich
wie gefügig die fremdgewünschten Marterminen und -haltungen ein.
Wer sagt mir, daß ich mich irre oder gar böswillig bin, wenn
ich so zu der Aufnahme des lauthals weinenden Gesichts einer Frau, Close
Up hinter den Gittern eines Gefangenenlagers, das gehorsame Befolgen der
Anweisung des Photographen der internationalen Presseagentur außerhalb
des Lagerzaunes förmlich mitsehe und selbst an der Art, wie die Frau
sich an den Draht klammert, etwas von dem Bilderkaufmann ihr Vorgezeigtes.
Mag sein, ja, ich irre mich, [...] doch weshalb habe ich solche gar sorgfältig
kadrierten, ausgeklügelten und eben wie gestellten Aufnahmen noch
keinmal jedenfalls nicht hier, im ,Westen` von einem serbischen Kriegsopfer
zu Gesicht bekommen? Weshalb wurden solche Serben kaum je in Großaufnahme
gezeigt, und kaum je einzeln, sondern fast immer nur als Grüppchen,
und fast immer nur im Mittel- oder fern im Hintergrund, eben verschwindend,
und auch kaum je, anders als ihre kroatischen oder muselmanischen Mitleidenden,
mit dem Blick voll und leidensvoll in die Kamera, vielmehr seit-oder bodenwärts,
wie Schuldbewußte? (S.40-42)