Erler im Interview
"Kein Rechtsbruch im formalen Sinne"- DW-Interview mit dem SPD-Abgeordneten Gernot Erler über erneute Vorwürfe, die NATO-Angriffe auf Jugoslawien seien völkerrechtswidrig gewesen

Köln, den 23.4.2001 (DW-radio)

(Auszug) "Vor wenigen Tagen haben Dieter Lutz und Reinhard Mutz vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg in einem Offenen Brief an den Deutschen Bundestag die NATO-Luftangriffe auf Jugoslawien im Frühjahr 1999 heftig kritisiert. Nach eigenen Angaben wollen sie die Debatte um die völkerrechtliche Grundlage der NATO-Intervention erneut auf die Tagesordnung bringen. Der SPD-Abgeordnete und stellvertretende Fraktionsvorsitzende Gernot Erler hat in einem Antwortschreiben die Vorwürfe der Hamburger Friedensforscher als ‚einseitig‘ und ‚tendenziös‘ zurückgewiesen. Mit ihm sprach Maria Rigoutsou:

Frage: Herr Erler, die Friedensforscher Dieter Lutz und Reinhard Mutz sprechen im Falle der NATO-Angriffe auf Jugoslawien von einem dreifachen Rechtsbruch: Bruch des Völkerrechtes, des internationalen Vertragsrechtes und des Verfassungsrechtes. Sie sagen auch, im Nordatlantik-Vertrag versichern sich die 19 Mitgliedstaaten der NATO gegenseitig, Gewalt nur im Verteidigungsfall anwenden zu wollen. Aber es ist kein NATO-Staat von Jugoslawien angegriffen worden. Was sagen Sie dazu?

Antwort: Dieser Vorwurf des dreifachen Rechtsbruches wird an keiner Stelle belegt, und es gibt ja auch bisher verschiedene Versuche, hier Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht oder vor internationalen Rechtshöfen durchzuführen, die aber alle nicht zum Erfolg geführt haben. Insofern gibt es bis heute keinen einzigen Beleg für irgendeinen Rechtsbruch. 

Was aber richtig ist, worauf aber die Autoren leider nicht hinweisen, ist, dass es einen Widerstreit im Völkerrecht gibt zwischen dem Gebot, bei Menschenrechtsverletzungen einzuschreiten und dem Souveränitätsrecht von Staaten. Zweifellos hat die NATO das Souveränitätsrecht von Jugoslawien und damals von Milosevic beiseite geschoben, um eine humanitäre Intervention zu machen. Sie hat also dieses Gebot, Menschenrechte zu schützen, höher gestellt als das Souveränitätsrecht. Hier ist eine offene Frage des Völkerrechtes, die weiter entwickelt werden muss, aber von einem Rechtsbruch im formalen Sinne kann nicht gesprochen werden.

Frage: In einem offenen Antwortbrief beklagen Sie, wie Sie sagen, den Enthüllungsjournalismus in der letzten Zeit. Was glauben Sie, was ist das Ziel solcher Berichterstattung? Haben diese nicht dazu beigetragen, die Dinge unter einem anderen Aspekt zu beleuchten?

Antwort: Man kann sich des Eindrucks nicht verwehren, dass es schon seit einiger Zeit eine regelrechte Kampagne gibt - ganz besonders um die Jahrestage des Kosovo-Krieges herum - immer wieder die gleichen Vorwürfe zu erheben, nämlich dass es eigentlich gar keine humanitäre Katastrophe im Kosovo gegeben habe, dass angeblich der Krieg erst die Vertreibung ausgelöst habe - alles Dinge, die nachweislich falsch sind und dass die deutsche Öffentlichkeit und auch die deutschen Bundestagsabgeordneten hinters Licht geführt worden seien durch ‚Manipulationen‘ über die Fakten. Keiner dieser Punkte ist bisher nachgewiesen worden. Und insofern kommt man schon zu dem Ergebnis, dass es sich hier um eine Kampagne handelt, um eine völlige Umdeutung des Kosovo-Krieges zu erreichen. Demnach wäre es ein klassischer, imperialer Krieg gewesen, der in Wirklichkeit gar keinen humanitären Hintergrund hatte. 

Dieses ist jetzt nicht die Auffassung von Professor Lutz und Herrn Dr. Mutz, die diesen offenen Brief geschrieben haben. Aber sie übernehmen doch eine ganze Reihe von diesen Klischees aus dieser Kampagne ungeprüft, stellen auch die Stichworte in ihrem offenen Brief ein, die zum Beispiel in dem Film ‚Es begann mit einer Lüge‘ ausgebreitet wurden, wo wir heute wissen, dass eher dieser Film eine Manipulation darstellt, als das, was er darstellen wollte.(...)" (fp)