Milosevic-Prozess

Nichts als die Wahrheit? (*)
  

Per aspera ad astra
Bemerkungen zu einem wichtigen Artikel über das sog. Massaker von Racak
"Die UCK unternahm niemals terroristische Operationen in Kosov[o]... Die Operationen der UCK waren eine Form der Verteidigung gegen den serbischen Besatzer, gegen die serbischen Barbaren." (Zeuge Shukri Aliu, Den Haag 9. Juli 2002)

Die erste Runde im Prozeß gegen Slobodan Milosevic hat bisher 16 Monate und über 200 Gerichtstage in Anspruch genommen – ein historischer Rekord. Dennoch sah die Anklage sich genötigt, eine Verlängerung bis Februar 2004 zu verlangen. Sie erhielt 100 zusätzliche Gerichtstage ab dem 16. Mai 2003. Insbesondere erhofft sie sich Auskünfte sog. "Insider", die im Gefolge der Repressionswelle nach dem Attentat auf Zoran Djindjic sogenannter "Insider", die im Gefolge der Repressionswelle nach dem Attentat auf Premierminister Djindjic (mehr als 10.000 Verhaftungen in von 5 Wochen, Polizeibrutalität und Folter inklusive) sich dazu bereit erklären sich dazu bereit erklären könnten, gegen Milosevic auszusagen.

Dabei sorgte ausgerechnet ein "Insider" im Kosovo-Teil des Prozesses für eine Überraschung. Der ehemalige Staatssicherheitschef Radomir Markovic verneinte im Kreuzverhör (26.7.02) einen zentralen Vorwurf: es habe weder einen Vertreibungsplan noch Befehle zur Spurenverwischung gegeben. Vielmehr habe der Schutz aller Zivilisten auch bei der Bekämpfung der UCK eine wichtige Rolle gespielt. Markovics Aussage bekräftigte die Aussage des anonymen "K-25" (9.7.02), der 1998/99 an Polizei-Einsätzen gegen die UCK teilgenommen und bezeugt hatte, daß Zivilisten oft zu ihrer eigenen Sicherheit aus dem Kampfgebiet evakuiert wurden. Worte wie ‚Säuberung’ oder ‚Aufräumen’ beinhalteten das Zurückdrängen der UCK und implizierten nie etwas, das die persönliche Sicherheit der Zivilisten gefährden würde. Die Anklage versuchte umgehend, Markovic zu diskreditieren und lud Zoran Stijovic, den Beamten, der im Auftrag des Belgrader Innenministeriums im Frühjahr 2001 mehrere Interviews mit ihm geführt hatte, vor. Aber auch er bejahte die für die Anklage peinliche Aussage: Befehle zur Assanierung der Gefechtsfelder seien keine Befehle zur Spurenverwischung oder Vernichtung von Beweismitteln gewesen. Da es offiziell Befehle zum Schutz von Zivilisten gab, so die Argumentation Milosevics, sei es unsinnig, ihn für Gewalttaten, die Gesetzesverstöße darstellten, verantwortlich zu machen.

Die These einer politischen und kulturellen "Apartheid" in Kosovo nach 1989 konnte schon zu Beginn des Prozesses widerlegt werden. Das im Westen oft gepriesene "Parallelsystem" im Bildungswesen war die Folge eines albanischen Boykotts öffentlicher Einrichtungen. Ein UCK-Berater und Abgeordneter im regionalen Kosovo-Parlament räumte ein, daß "die Albaner die Teilnahme am Unterricht verweigerten, weil sie ihr eigenes System hatten, ihre eigenen Lehrer und Professoren" (19.2.02). Er bestätigte, daß das Curriculum für albanischsprachigen Schulunterricht – der also keineswegs verboten war – keine diskriminierenden Sonderregelungen für Kosovo vorsah. Eine systematische Benachteiligung am Arbeitsplatz hat es ebenfalls nicht gegeben. Die Legende, daß UCK-Kämpfer nur mit Jagdgewehren bewaffnet waren, wurde schließlich durch den Ex-Kommandanten Shukri Buja selber demoliert (6.6.02). Zum Arsenal zählten schwere Maschinengewehre, sowie Minen-, Granaten- und Raketenwerfer. Diese Aussagen unterminieren den Vorwurf, daß die serbische Seite bei ihrer "Terrorbekämpfung" unverhältnismäßige Mittel angewandt habe. Ohnehin war jederzeit klar, daß nur die albanische Seite von einer Eskalation des Konflikts profitieren konnte.

Die nachgeschobenen Anklagen wg. Kroatien und Bosnien-Herzegowina und die dramatische Erhöhung auf 66 Anklagepunkte sollen offenbar gewährleisten, daß trotz des Beweismangels im Fall Kosovo eine Verurteilung des Angeklagten noch erreicht werden kann. "Natürlich", so ein Anklagevertreter, meint man nicht, Milosevic sei "in irgendeiner Form" für Morde und Vergewaltigungen "direkt verantwortlich" gewesen oder habe "direkte Autorität" über die Täter gehabt. Aber er habe teilgenommen an der Planung und Ausführung eines "gemeinsamen kriminellen Unternehmens" zur "zwangsweisen und permanenten Vertreibung" der Mehrheit von "Nicht-Serben" in Kroatien und Bosinen-Herzegowina. Dieses Komplott "begünstigte es und führte dazu, daß vorhersehbare Verbrechen geschahen". Kann also jedes Kriegsverbrechen, daß sich dort zwischen 1991 und 1995 ereignete, einer handverlesenen Gruppe von 15-20 serbischen Funktionären und Militärs angelastet werden – vorausgesetzt, die Täter sind Serben (oder ihre Kollaborateure) und die Opfer "Nicht-Serben"? Im Sprachgebrauch des Angeklagten kommen jedenfalls Schlagworte wie "Nicht-Serben" nicht vor. Und was ist mit den Opfern der NATO-Angriffe? Waren sie nicht "vorhersehbar"? Oder handelte es sich nicht um Verbrechen, weil die Täter "humanitär" motiviert waren? Sind die Opfer also keine oder höchstens "Opfer Milosevics"?

Der Strategie der Anklage entsprechen vollmundige Ankündigungen in der Presse. Der britische Observer meinte am 11.5.2003, daß endlich ein direkter Hinweis auf Milosevics Verantwortung für Kriegsverbrechen gefunden worden sei – nach 15 Monaten vergeblichen Bemühens, wie man plötzlich einräumte, während denen die Öffentlichkeit schon mehrfach mit "Durchbrüchen" dieser Art beglückt worden war. Waren diese Meldungen allesamt falsch gewesen?

Diesmal handelte es sich um die Aussage eines ehemaligen Kasino-Managers und Geheimdienst-Informanten aus Novi Sad (28./29.4.03). Milosevic hätte dort im März 1993 an einem Treffen teilgenommen und der Vertreibung kroatischer Jugoslawen aus Ostslawonien zugestimmt. Der Zeuge war angeblich für die Bewirtung verantwortlich und so in der Lage, das Treffen teilweise zu verfolgen. Als Grundlage diente aber nicht nur seine Erinnerung, sondern auch Notizen, die er im Jahre 2002 anfertigte, wobei er sich angeblich auf Einträge in seinem damaligen Tagebuch, das in der Zwischenzeit leider zerstört wurde, bezog. Milosevic bestritt "aufgrund sorgfältig geprüfter Informationen Nachforschungen meiner Mitarbeiter", im März 1993 in Novi Sad gewesen zu sein. Auch gegenüber der Geschichte vom verschwundenen Tagebuch blieb er skeptisch: "warum würde jemand ein Beweisstück, auf das er sich stützt, vernichten?" Einer der drei Berater des Gerichts (amicus curiae) wies schließlich darauf hin, daß der Zeuge sich gerade bei den "sehr delikaten Angelegenheiten" stärker auf seine Erinnerung als auf sein damaliges Tagebuch stützte.

Immer wieder wird das Gericht mit Aussagen konfrontiert, die der Lesart, daß der Zerfall Jugoslawiens auf eine "Aggression" Serbiens zurückging (die dann auch den NATO-Angriff von 1999 rechtfertigten soll) diametral entgegenstehen. Der Anführer einer Einheit von Krajina-Freiwilligen sagte aus (20./21.2.03), daß die autonomen serbischen Regionen in Kroatien keine Militärhilfe aus Belgrad erhielten und daß Angehörige der jugoslawischen Armee von allen Dienstpflichten und Befehlsstrukturen suspendiert waren, wenn sie als Freiwillige dienten. Er merkte an, daß Milosevic, als Präsident Serbiens, gegenüber der politischen Führung der serbischen Krajina zu wenig Stärke bewies. Ironisch fügte er hinzu: "und hier klagt man Sie genau wegen des Gegenteils an; Sie können also in keinem Fall gewinnen". Aufschlußreich ist auch sein Hinweis, daß es "fast unmöglich war, daß Verbrechen von oben angeordnet wurden, denn in der Befehlskette würde sich immer jemand gefunden haben, der dies verhindert hätte". Viel wahrscheinlicher sei es, daß bestimmte Verbrechen von höherer Seite gedeckt würden. Auf Milosevics Frage, was er von angeblichen Plänen zur Schaffung eines "Großserbiens" wisse, antwortete er: "Es ist vollkommen lächerlich, daß ausgerechnet ein kleines, verarmtes Land wie Serbien ... von der Schaffung eines großen serbischen Staates gesprochen haben sollte. Das ist Unsinn." 

Matthias Gockel
(*) Zuerst erschienen, in abgewandelter Fassung, in "sloboda" – Beilage der Tageszeitung junge Welt, 18. Juni 2003, S. 3.