Die
täglichen Emails zur Lage in der Welt haben mich bewogen, eine
Bestandaufnahme zu formulieren, um die eigene Wut und Ohnmacht eine
wenig los zu werden. Sie ist entstand, bevor ich das
bemerkenswerte Interview in der Tageszeitung "junge welt" am 13.9.2014
mit Willy Wimmer gelesen und am 14.9. in 3sat die Vorstellung von
Volker Pispers gesehen und gehört habe - beide haben mich überzeugt,
meine Überlegungen öffentlich zu machen. Erschreckend fand ich die
Erkenntnis, dass ein Kabarettist eine radikal-treffende Analyse der
herrschenden Zustände präsentiert, wie sie von keiner Partei,
keiner Organisation, keiner Vereinigung o. ä. in der letzten Zeit zu
hören oder zu lesen war. Ich meine, seine Einschätzung "Kabarett ist
ein Ort, an dem man sich die Kritik an seinem Lebenswandel genauso
folgenlos um die Ohren schlagen läßt wie in der Kirche" ist auch eine
Aufforderung zum Handeln.
Kurze/politische Bestandsaufnahme mit praktischen Folgen
Die
meisten Menschen wollen nicht in Kriege hineingezogen werden, die dann
auch noch in ihrem Namen geführt werden. Die meisten Menschen
wollen nicht, dass ihre Freiheit am Hindukusch oder an der
russischen Grenze in Osteuropa verteidigt wird. Kaum jemand wünscht,
dass für ihren/seinen materiellen Wohlstand Bodenschätze oder
anderer natürlicher Reichtum, der Völkern oder Nationen irgendwo auf
dem Globus gehört, mit Waffengewalt geraubt werden. Kaum jemand
befürwortet die Produktion von Waffen und Waffensystemen. Sehr wenige
sind dafür, dass Waffen exportiert und mit ihnen ganze Völker
ausgerottet oder die europäischen Grenzen gegen Menschen gesichert
werden, die um Einlass bitten, hungern und dursten, traumatisiert
und hoffnungslos sind. Die meisten Menschen in Deutschland, in Europa,
in der Ukraine, in Gaza, auch in Israel, in Syrien und wo
immer, wollen in Frieden und Sicherheit und ohne Angst leben.
Die
meisten Menschen wollen auch ernst genommen und respektiert werden. Sie
wollen, dass ihre Wünsche nach einem friedlichen und
angstfreien Leben erfüllt werden. Sie erwarten, dass die
Gesellschaft jedem Menschen ein würdevolles Leben sichert, sozial
gerecht ist und kein Kind systematisch ausschließt oder
benachteiligt. Und sie fürchten sich vor einer Welt, in der Gift und
andere Schadstoffe ihre Gesundheit ruinieren und die Natur, auf
deren Wohlwollen sie angewiesen sind, zerstört. Diese und andere
bedrohliche Szenarien aber drängen sich mit jedem Tag massiver und
bedrohlicher in unseren Alltag, in unser Leben und das unserer
Familien, unserer Kinder. Viele Menschen fühlen sich ohnmächtiger und
hilfloser denn je. Und viele machen sich bemerkbar, schreiben und
unterstützen Appelle, Leserbriefe, Verlautbarungen. Die einschlägigen
Internetseiten vieler Verbände und Vereine und NGOs sind voller
Äußerungen besorgter Mitmenschen.
Ihre ganz banalen weil
lebensnahen Anliegen richten sich mit besonderem Nachdruck an die
gewählten PolitikerInnen, die in Parlamenten und Regierungen
sitzen. Und in jeder neuen Wahlperiode machen die meisten Menschen die
gleichen Erfahrungen: Ihre Anliegen werden nicht nur nicht
ernst genommen, ihnen wird demonstriert, dass Verlogenheit und
Wortbruch die vorherrschenden Charakteristika der politischen Klasse
geworden sind. Nein, man muss es noch deutlicher sagen: In den
letzten zwanzig Jahren ist dieses politische Handlungsmuster zum
bestimmenden Prinzip ihrer Politik geworden. Die Hoffnung, dass
Nachkriegszeit und europäische Integration eine Zivilgesellschaft
geschaffen haben könnten, die durch
Friedfertigkeit, demokratisches Selbstverständnis und von einem
universellen Gerechtigkeitsverständnis geprägt ist, hat sich,
spätestens mit Beginn des letzten Balkankrieges, verflüchtigt.
Meinungen,
Vorstellungen, Wünsche, Bedürfnisse des weitaus größten Teils der
Bevölkerungen spielen bei politischen Planungen und
Entscheidungen nur noch eine plakative Rolle. Politik hat sich von
den Menschen, deren Interessen und Lebensbedürfnisse sie vertreten
soll, gelöst. Wir erleben eine Eskalation der Konfliktszenarien,
an der EU und Nato offensiv und entscheidend beteiligt sind: In allen
Krisenherden haben ihre militärischen, geheimdienstlichen und
aufrüstenden Aktivitäten dazu beigetragen, Situationen zu schaffen, auf
die dann mit mehr oder weniger lautem Säbelrasseln reagiert werden
kann – sozusagen eine politisch durchkomponierte Self-fulfilling
Prophecy, egal ob im Nahen Osten, in der Ukraine, in Syrien, in
Libyen, in Afghanistan, im Irak und und... Wer etwa in Bezug auf
den sog. Ukraine-Konflikt die Nato-Landkarte von vor 20 Jahren mit der
heutigen vergleicht, bekommt einen erschreckenden Eindruck von der
konflikttreibenden strategischen Inszenierung gegen Russland. Putin
hin, Putin her – europäische und Nato-Politik haben sich in einem
erschreckenden, bedrohlichen, beängstigenden Ausmaß militarisiert, die
Rolle, die EU und Nato in der Ukraine und an vielen anderen Orten
waffentechnisch, geheimdienstlich und personell spielen, setzt den
kalten Krieg fort und forciert den heißen.
Wenn die Widersprüche
zwischen politischem Handeln und Meinung und Wollen der meisten
Menschen sich immer weiter zuspitzen, ist irgendwann der Punkt
erreicht, an dem es nicht mehr ausreicht, Appelle zu verfassen und
Artikel zu schreiben. Wer sie täglich liest, spürt vielleicht, wie
beklommene Gefühle in seinen Eingeweiden hochkriechen, weil mit
jeder Meinungsäußerung gewisser wird: Kein Wort, kein Satz, kein
Kommentar im Radio oder Interview im Fernsehen, ändert etwas an
dem Horrorszenario, das vor unseren Augen und bei unserem vollem
Bewusstsein mit immer größerem Tempo inszeniert wird. Die Zeit der
Worte, der gepflegten und vielleicht auch engagierten Diskurse, ist
vorbei. Nein, Steine und Molotowcocktails werfen wollen die
meisten von uns nicht. Aber wir müssen über angemessene
Handlungsmodelle nicht nur nachdenken, wir müssen sie entwickeln, um
aufzuhalten, was wie eine immer bedrohlicher werdende Welle über
uns hinweg schwappt, wie ein kriegerisch-gewalttätiger Tsunami.
Es
gibt keine Hoffnung mehr, dass über politische Institutionen und
Gremien Veränderungen möglich werden könnten, die einen
Mehrheitswillen umsetzen. Die parlamentarische Demokratie hat
abgewirtschaftet, sich selbst ad absurdum geführt, indem die politisch
Verantwortlichen ihren Lebensnerv, die Grundlage ihrer
Existenzberechtigung, systematisch zerstört haben: Das Vertrauen, die
gewählten „Volksvertreter“ könnten sich ihren Wählern verpflichtet
fühlen, ihre Interessen im Parlament vertreten und ihre Versprechen vor
der Wahl halten, ist aufgebraucht. Entmündigende Absurditäten wie
Fraktionszwang, oder die gerade bei lebenswichtigen Themen geheimen
Beratungen und Entscheidungen hinter verschlossenen Türen ohne
öffentliche Kontrolle, die demokratisches Selbstverständnis verhöhnen,
oder der Diebstahl von Hunderten von Milliarden an Steuergeldern im
Zuge der sog. Finanzkrise, um Banken und ihre Bosse und Manager
immer reicher und verantwortungsloser zu machen, oder die vielfältigen
Formen der korrupten Dienstbarkeit von PolitikerInnen für mächtige
Gruppeninteressen; oder die Privatisierung von Gesetzgebungen, die mehr
und mehr von fürstlich entlohnten Lobbyisten verfasst werden – all
diese und viele andere Knebelungen demokratischer Grundsätze
demonstrieren eine so infame Gleichgültigkeit gegenüber den
meisten Menschen, dass Demokratie zu einer scheinheiligen Phrase
verkommen ist. Ein Hoffnungsschimmer, sie könnte irgendwie
runderneuert werden, ist nicht zu sehen.
Wie dringend eine
Veränderung unserer Handlungsmuster ist, machen die täglichen
Verlautbarungen der sog. „politisch Verantwortlichen“ deutlich:
Frau Merkel und Frau von der Leyen treiben, unterstützt von Herrn
Gabriel, die militärisch-kriegerischen Aktivitäten immer weiter voran,
einschließlich der Waffenlieferungen, die wie Öl ins Feuer der
Konflikte wirken; den politischen Parteien in Deutschland und anderswo
fehlt Bereitschaft oder Wille, gegen Entmündigung und
Kriegstreiberei aufzustehen; die neue EU-Außenbeauftragte strotzt vor
Dummheit, wie ihre ersten öffentlichen Äußerungen zur Ukraine
zeigen, und wird nachplappern, was die wollen, die in der EU mächtig
sind, also „das Sagen haben“; die Nato rüstet weiter auf und lässt sich
von polnischen und baltischen ScharfmacherInnen aufhetzen, deren
Neurosen und Ranküne zu einer Bedrohung für uns alle werden; Katar,
Saudi-Arabien und andere arabische Unterstützer des IS werden
weiter hofiert und mit jeder gewünschten Waffe versorgt; mit CETA und
TTIP verkauft die Politik sich endgültig und unumkehrbar an
ökonomische Profiteure, Spekulanten und Schmarotzer und erstickt die
letzten demokratischen Fünkchen; usw. – die Liste ließe sich
beliebig fortsetzen.
Dieser Realität ins Gesicht blicken heißt,
nicht länger an Wahlurnen eine pseudodemokratische Attrappe zu stützen.
Es ist an der Zeit, mit den Füßen oder mit Taten abzustimmen:
millionenfach, weltweit, unermüdlich. Wir brauchen nicht nur Demos mal
zu diesem oder jenem Problem – sie werden von den politischen und
ökonomischen Drahtziehern belächelt oder gleich ganz ignoriert, ihre
Wirkung gleicht der eines David, der mit der Wasserpistole
sein Leben verteidigt. Wir brauchen etwas einer Steinschleuder
Vergleichbares, zeitgemäß aber wirkungsvoll, damit wir uns gegen diesen
Goliath wehren und, das Wichtigste überhaupt, damit unsere Kinder
noch überleben können. Wir brauchen eine Bewegung, die täglich und
überall präsent ist, bis wir alle in dieser Welt friedlich,
gerecht und geschwisterlich leben können. Unsere Stärken sind unsere
Utopien und Hoffnungen und die große Zahl derer, die unterdrückt,
ausgebeutet und ausgenutzt werden, die leiden und sich ein zufriedenes,
würdevolles Leben wünschen.
Vielleicht kann das Internet unsere
„Waffe“ sein, das heute bis in den letzten Winkel hinter dem Horizont
reicht. Es könnte die moderne Steinschleuder werden: Ein Aufruf
weltweit, damit vielleicht viele Menschen zu reagieren beginnen,
vielleicht erst einmal nur zehn Minuten demonstrativ stehen
und schweigen; jeden Tag wiederholt, mit Ausdauer aber
Überzeugung, dass es funktionieren könnte. Und wenn jeden Tag nur
tausend Menschen mehr mitmachen, könnte innerhalb kurzer Zeit eine
Massenbewegung entstehen, die zu ignorieren nicht mehr möglich ist. Bis
Millionen Menschen auf der ganzen Welt alles lahmlegen, was ihnen
schadet und sie leiden lässt.
Mag sein, dass die Idee naiv ist,
aber es ist eine. Ist ja auch egal, denn klar ist: Wir brauchen, nicht
übermorgen sondern heute, Initiativen, Aktionen, Eingriffe,
Einmischungen mit Tiefen- und Breitenwirkung. Und jetzt kommt ein
gefährliches Zitat aus der Schmuddelkinder-Ecke, von Ulrike Meinhoff
und deshalb angesichts des gegenwärtig düster inszenierten
Terrorwahns besonders verdächtig und gegen die guten Sitten des
demokratischen Schein-Dialogs verstoßend – aber so verdammt wahr und
zeitgemäß: „Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht.
Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt,
nicht länger geschieht. Protest ist, wenn ich sage, ich mache nicht
mehr mit. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß alle andern
auch nicht mehr mitmachen. “
Wenn wir einfach weitermachen,
unzufrieden und voller Wut im Bauch, aber die Dynamik der Politik und
der Ökonomie, die dabei sind, unsere Lebensgrundlagen zu
vernichten, nicht mit den gewaltfreien Gewaltmitteln, die wir zur
Verfügung haben, mit unerbittlichem Widerstand,
unterbrechen, geben wir uns und die Kinder, denen wir das Leben
geschenkt haben, auf. Es gibt keinen Gandhi mehr, aber es gibt eine
unüberschaubare Fülle von Menschen, die nicht korrumpierbar und
voller Tatendrang sind. Sie müßten zusammenfinden. Vielleicht sogar,
ganz sollten wir diese Hoffnung nicht aufgeben, zu einer
demokratischen Renaissance, die mit einer „Partei für Frieden und
Gerechtigkeit“ beginnen könnte. Frieden und Gerechtigkeit:
Diese beiden Ziele sind so einfach wie umfassend, verkümmern aber
in irgendwelchen Floskelspeichern, praktisch-politisch werden sie bis
zur Unkenntlichkeit zertrampelt, entstellt. Aber sie sind die
Grenzsteine für eine Welt, die den Fähigkeiten des homo sapiens
angemessen wäre. Vielleicht würden sie auch den Unzähligen, die
mutlos, verzweifelt, resigniert und deshalb wie gelähmt sind, Hoffnung
machen und sie zum Handeln ermuntern.
(Dr. Günter Rexilius, Mönchengladbach)
Dr. Günter Rexilius Dipl. -Psych., Priv. -Doz. Psychol. Psychotherapeut
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41189 Mönchengladbach
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