Der Steckbrief - immer eine pikante Angelegenheit
  
Die Häme, mit der sich Kommentatoren u.a. in der "Welt" über die angebliche "Posse" der Steckbriefe gegen die NATO-Kriegsverbrecher ausließen, wird ihnen im Hals steckenbleiben.

Da wurde zu früh gelächelt. Denn welche Varianten des Verhaltens der Bundesregierung ergeben sich aus der derzeitigen Situation?

a) weitermachen wie bisher, also Ignoranz gegenüber dem sachlich zuständigen Gericht und seinem Urteil (vgl. Ergänzung unten) oder
b) in die Berufung gehen wie der für die französische Seite zuständige Pflichtverteidiger

Variante a) ist so schick. Im vollen Bewußtsein, die Macht zu haben und immun zu sein gegenüber irgendeiner Justiz irgendeines Hungerleiderstaates, läßt sich weiterhin  das Gerichtsurteil ignorieren.

Konsequenzen:

- niemand weiß exakt, wie das Verfahren weiterlaufen wird und wie lange es dauert. Alles bleibt in der Hand jugoslawischer Juristen und einer sich wie auch immer in den nächsten Jahren gestaltenden jugoslawischen/serbischen Regierung. Die Zumutung, daß Herr Kostunica (Professor der Rechtswissenschaft von Beruf) per "ordre mufti" das Urteil kassiert (mit welcher Begründung?), gar einen "Gnadenerlaß" schreibt (jetzt wird es echt peinlich), ist derzeit undenkbar. 
Die Konsequenz daraus wäre für Kostunica nicht nur, sich gegenüber dem eigenen Volk als Handlanger der NATO darzustellen, nicht nur dann auch die Verfahren gegen Milosevic zu gefährden, sondern auch eine Reaktion der gesamten juristischen Fachwelt, auch der politischen Klasse dieser Erde. Denn das Urteil war in einem korrekten rechtsstaatlichen Verfahren nach internationalen Standards gefällt, und Jugoslawien wird nun auch vom hartgesottensten Serbengegner als Rechtsstaat angesehen. Da können Gerichtsentscheidungen nicht mal eben so von der Regierung  "kassiert" werden.

- also steht wohl bei Variante a) das erhoffte langsame Vergessen an. Mit diesem Ziel ist jeder Unsicherheit Tür und Tor geöffnet. 
Da kann es schon einem weiter ergrauten Herrn Fischer, wenn er ohne den Schutz diplomatischer Immunität durch die Welt reist und einen Vortrag über seine Glanzleistungen halten will, passieren, daß es ihm wie Pinochet ergeht. Plötzlich wird er festgehalten, und eine Auslieferung mit Belgrad besprochen. Wenn die betreffende Regierung doch gerade einen lukrativen Vertrag mit Jugoslawien abschließen will ... (Übrigens geht es Kissinger gerade so und Sharon: sie jetten nicht mehr durch die ganze Welt, sondern schränken sich schon ordentlich ein.) 
Es bedarf dafür nicht eines "Schurkenstaates" - nur geänderter politischer Vorzeichen in Berlin und einer genügend hohen Vertragssumme, oder eines gewitzten  Strafrichters, der Karriere machen will (z.b. eines spanischen - wie im Falle Pinochet). 

- unangenehm kann auch Nehm werden. Der ist Generalbundesanwalt in Deutschland und beruft sich darauf, keinen Anlaß für Ermittlungen gegen die mutmaßlichen Staatsverbrecher zu haben. Womit er seinen ehemaligen Chef Schmidt-Jortzig ignoriert, der schlichte rechtliche Notwendigkeiten schon bei der Kriegsvorbereitung mißachtet  sah und also den Kabinettsbeschluß zur Stellung deutscher Tornados auch nicht mittrug. 
Die derzeitige Amtsinhaberin, die den Krieg mittrug, macht den Job aber auch nicht mehr allzulange. Vielleicht ignoriert der Generalbundesanwalt bei einem Machtwechsel in Berlin dann plötzlich deren Ansichten über die Legalität von Angriffkriegen und kehrt zur Position von Schmidt-Jortzig zurück? 
Dann hat er mit dem Belgrader Urteil einen wohlfeilen Anlaß, Ermittlungen aufzunehmen.

Variante b) ist spektakulär. Die Bundesregierung folgt dem französischen Beispiel und stellt sich der jugoslawischen Justiz. Sie wird wohl kaum persönlich erscheinen - die Haftbefehle sind sofort vollstreckbar!
Aber mit einem Heer von Juristen in die Berufung gehen und auf rechtsstaatlichem Wege in dem Land, das sie bebombt hat, versuchen, gegen das Urteil in Berufung zu gehen und es revidieren zu lassen. Und das bei der derzeitigen Sachlage! 
Da muß viel, ganz viel Geld fließen. Und die gesamte Weltöffentlichkeit wird zuschauen, geht es doch um das Recht der NATO zum Angriff auf einen souveränen Staat ohne UN-Sicherheitsratsbeschluß.
 

Was auch immer passiert: 
in den nächsten zwei Wochen dürften im Kanzleramt die Köpfe rauchen. Denn so eine Posse ist es eben nicht mit der Justiz. Zwei Wochen ist die Zeit, die nach der Zustellung der Haftbefehle den Pflichtverteidigern bleibt, Berufung einzulegen. 
Schauen wir mal.

Ergänzung im Mai 2001:
Wie jedermann leicht erkennen konnte, fand Variante a) statt. Alles blieb in jugoslawischer Hand, und es ward still. Totenruhe über diese Angelegenheit.
Bei einem Anruf im Außenministerium, Sonderstab westlicher Balkan, erfuhr ich, wieso.
Man war unter den betroffenen Regierungen übereingekommen, "die Sache tief zu hängen", ganz tief. Und den Jugoslawen "die Gelegenheit zu geben, die Sache geräuschlos aus dem Weg zu schaffen". Wie das auf einer Bundespressekonferenz geht, ist vorstellbar. Wie es in Jugoslawien geht, weiß ich nicht. Jedenfalls liegt über den deutschen Botschafter ein Schreiben des jug. Justizministers vor, in dem er die Staatsanwaltschaft beauftragt, zu PRÜFEN, welche Wege es geben könnte. Gerne hätte ich eine Kopie dieses Schreibens gehabt. Leiderleider kriegt man so etwas nicht ...

(c) Andreas Hauß, April + Mai 2001 http://www.medienanalyse-international.de/steckbrief.html