Absprung in der Uckermark
Vor ein paar Jahren fuhren meine Frau und
ich mit dem PKW an die Ostsee nach Binz, um dort unseren Urlaub zu verbringen.
Kurz vor Anklam legten wir einen kleinen Umweg ein. Ich wollte endlich
einmal die Gegend wiedersehen, in der ich am 22. März 1945 illegal
mit dem Fallschirm abgesprungen war.
Zunächst begaben wir uns zum Bahnhof
Ducherow. Unverändert zeigte er sein Backsteingesicht. Nur herrschte
heute hier völlige Ruhe, im Gegensatz zu jenen Märztagen, als
es auf der Station von Soldaten der faschistischen deutschen Wehrmacht
wimmelte und die SS scharfe Kontrollen der Ausweise und Fahrdokumente vornahm.
Danach fuhren wir weiter zur Gemeinde
Leopoldshagen. Auf dem holprigen Kopfsteinpflaster war keine höhere
Geschwindigkeit als 30 Kilometer in der Stunde erlaubt.
[Rudi als Autonarr muß das ein Graus
gewesen sein. So kann man auch Kritik an den herrschenden Verhältnissen
üben ...]
Angenehm entschädigt wurde man für
die Rumpelei allerdings durch den Anblick der hohen Pappeln und anderen
Bäume, die die alte Landstraße links und rechts säumten.
Mit jedem Kilometer, den wir uns Leopoldshagen
näherten, wurde die Erinnerung in mir stärker lebendig. Damals
im März 1945 waren alle meine Sinne derart angespannt, daß sich
jede Einzelheit des Weges fest in meinem Gedächtnis eingegraben hat.
.
Ungefähr 800 Meter vom Ausgang des
Ortes entfernt, entdeckte ich dann meinen Absprungplatz. Auch hier war
die Natur unverändert geblieben. Die Ueckermünder Heide mit ihrem
hohen Nadel- und Laubwald stand in prächtigem Grün. Auch der
Graben, in dem ich meinen Fallschirm verborgen hatte, war noch vorhanden.
Ich war am 3. September 1941 in sowjetische
Gefangenschaft geraten. Dort schloß ich mich relativ schnell der
antifaschistischen Bewegung an, da ich mich bereits seit Jahren in einigen
Fragen im krassen Gegensatz zu den Nazis befand. Insbesondere verabscheute
ich die unmenschliche Rassenpolitik. Je mehr ich mich in der Sowjetunion
mit dem Marxismus-Leninismus vertraut machte, um so erbitterter wurde ich,
daß auch ich — trotz mancher Vorbehalte zwar — den braunen Rattenfängern
eine Zeitlang gefolgt war. Jetzt wollte ich versuchen, wenigstens etwas
wiedergutzumachen. Deshalb meldete ich mich vor Abschluß des Lehrgangs
auf der Antifa-Schule in Krasnogorsk Ende April 1944 zum illegalen Einsatz.
Ich fühle noch heute den Stolz, der mich erfüllte, als mir mitgeteilt
wurde, mein Antrag sei positiv entschieden worden.
[Man beachte den Zeitpunkt: der Ausgang
des Kriegs war absehbar.]
Gemeinsam mit anderen Freiwilligen wurde
ich auf die illegale Arbeit vorbereitet. Man machte uns mit den Regeln
der Konspiration vertraut, damit wir uns einigermaßen sicher unter
dem Gegner bewegen konnten. Auch das Funken wurde intensiv gelehrt und
geübt, also das Geben und Hören, das Ver- und Entschlüsseln
von Funksprüchen. Mit der Funktechnik beschäftigten wir uns ebenfalls
eingehend. Wir mußten ja in der Lage sein, Störungen rechtzeitig
zu bemerken und selbständig zu beheben.
Das Funken fiel mir nicht schwer, denn
ich war in der faschistischen Wehrmacht Beobachter in einer Heeresaufklä-rungsstaffel
gewesen, hatte also Funken und Funkgerätekunde hinreichend kennengelernt.
Auch Topographie war mir nichts Neues. Bald war der Zeitpunkt herangerückt,
da ich mit den sowjetischen Genossen Einsatzort und -aufgabe konkret absprechen
konnte.
Wir entschieden uns für das Gebiet
Usedom/Wollin (heute Wolin). Im damaligen Swinemünde (Swinoujscie)
lebten meine Schwiegereltern. Mein Schwiegervater, Oberst a. D. Axel Freiherr
von Wachtmeister, gehörte zwar der kaisertreuen preußischen
Adelskaste an, aber mir war bekannt, daß er aus seiner konservativ
geprägten humanistischen Einstellung heraus ein Gegner des Hitlerregimes
geworden war. Zudem verfügten meine Schwiegereltern über weitreichende
Verbindungen zu einflußreichen diplomatischen und militärischen
Kreisen. Dadurch konnte ich möglicherweise Informationen erhalten,
die für die Rote Armee wichtig waren. Nicht zuletzt kam Swinemünde
wie den Inseln insgesamt bei der damaligen Frontlage strategische Bedeutung
zu. All diese Tatsachen sprachen also für die Wahl gerade dieses Einsatzortes.
[Das benachbarte Peenemünde war aus
bekannten Gründen auch nicht uninteressant für die Rote Armee
- obwohl von Brauns Truppe längst abgezogen war.]
Meine Aufgabe bestand zum einen darin,
mit.Hilfe meines Schwiegervaters der Zentrale genaue Angaben über
die militärische Situation auf Usedom und Wollin per Funk zu übermitteln,
und zum andern, einflußreiche Offiziere und andere Persönlichkeiten
zum Widerstand gegen die Hitlerdiktatur zu gewinnen. Jeder Tag, um den
der Krieg verkürzt werden konnte, ersparte den Völkern, darunter
auch unserem deutschen Volk, weitere sinnlose Opfer an Menschen und materiellen
und kulturellen Gütern.
Zu meiner Vorbereitung gehörte die
Ausarbeitung meiner. Legende. Es leuchtet ein, daß ich nicht unter
meinem wirklichen Namen in Swinemünde erscheinen konnte. Ich mußte
also eine andere Identität annehmen. Eine derartige Legende muß
der Aufgabe und den Bedingungen angepaßt sein, unter denen der Kundschafter
handeln soll.
Für meinen Auftrag war es in der
damaligen Kriegszeit, die
das gesamte Leben der Menschen beherrschte,
das günstigste, als Offizier aufzutreten. Das stimmte zudem gut mit
der Wirklichkeit überein. Ich war ja tatsächlich Wehrmachtoffizier
gewesen. Ich wählte den Namen meines Freundes Hermann Janzik, eines
Fliegeroffiziers, der von einem Flug gegen England nicht zurückgekehrt
und seither verschollen war. Seinen Lebenslauf kannte ich sehr genau.
Nach meinem Dienstalter müßte
ich Hauptmann sein und bestimmte Orden besitzen. Ein Fliegeroffizier, dazu
ein Hauptmann, der im fünften Kriegsjahr noch nicht das EK 1.. Klasse
besaß, hätte im Nazireich Verwunderung hervorgerufen, insbesondere
bei Soldaten und Offizieren. Ein Kundschafter jedoch soll keinerlei Aufmerksamkeit
erregen, kein besonderes Interesse wecken, alles muß ganz normal
erscheinen. Also hatte ich wohl oder übel meine Uniform auch mit einem
Eisernen Kreuz zu «dekorieren». , Für die Glaubwürdigkeit
einer Legende gilt der Grundsatz: Je mehr man an Lebensfakten auf- und
nachweisen kann, um so sicherer. Sie muß einer Überprüfung
standhalten, darf keinen Zweifel an der angenommenen Identität aufkommen
lassen, darf ihren Träger nicht enttarnen.
Meine Schwiegereltern besaßen einen
breiten Bekanntenkreis unter Offizieren, Adligen und Bourgeois. Es würde
daher keine Verwunderung bei Außenstehenden hervorrufen, wenn in
ihrem Hause ein Fliegeroffizier auftauchte. Im Gegenteil, der Besuch fügte
sich als alltägliche Sache in ihren Lebensrhythmus ein.
Theoretisch war damit alles gut durchdacht.
Doch wie würde die Wirklichkeit aussehen? Lebten meinen Schwiegereltern
überhaupt noch? Waren sie vielleicht evakuiert worden? Nun, wer nicht
wagt, der nicht gewinnt! [typisch Rudi]
Nicht weniger wichtig als die passende
Legende war die Auswahl meines Absprungplatzes. Man zeigte mir Karten,
auf denen die Inseln Usedom und Wollin,
das Oderhaff mit der Peene und ein größerer Teil des südostwärts
von den genannten Gewässern liegenden Festlandes eingezeichnet waren.
Ich benötigte zum Abspringen eine möglichst verkehrsarme, gut
gedeckte Gegend. Andererseits durfte es bis zu einer Verkehrsgelegenheit
nicht allzu weit sein, da mein Koffer mit dem Funkgerät ziemlich schwer
sein würde und ich auch sonst als einsam wandernder Offizier Aufsehen
erregen könnte.
Ich entschloß mich, 800 Meter ostwärts
der Gemeinde Leopoldshagen zu landen. Der Landeplatz - eine freie Fläche
von etwa einem Quadratkilometer Ausdehnung - war in ein dichtes Waldgebiet
eingebettet. In der Nähe verlief die Landstraße Ueckermünde
- Mönkebude - Leopoldshagen - Du-cherow.
Beim Absprung konnte ich die Straße
leicht auf möglichen Verkehr überblicken und später auf
kürzestem Wege den Bahnhof Ducherow erreichen. Von diesem Ort bestand
eine Eisenbahnverbindung nach Swinemünde.
Mitte März 1944 teilte mir Oberst
L., mein Ausbilder und Betreuer, mit, daß in den nächsten Tagen
mit meinem Abflug von Moskau zu rechnen sei.
Wir landeten auf einem Feldflugplatz in
der Nähe einer polnischen Kleinstadt, die erst vor wenigen Tagen durch
die Rote Armee von faschistischen Truppen befreit worden war. Drei Tage
blieben wir in dem Städtchen, in einem kleinen Hotel; dann kam der
Einsatzbefehl. Bevor wir zum Flugplatz abgeholt wurden, nahm Oberst L.
von mir Abschied. Da wurde mir erst richtig bewußt, daß ich
in wenigen Stunden ganz auf mich allein gestellt sein würde. Mit der
Trennung von Genossen L. und Aljoscha, dem Dolmetscher, würden buchstäblich
die letzten Brücken hinter mir abgebrochen sein.
["Genosse L." - nur die Initialen zu nennen
war dann Prinzip bei rudi, wenn er nicht wußte, ob die betreffende
Person evtl. noch lebte und mit einer Veröffentlichung nicht einverstanden
war.]
Würde ich diese mir lieb gewordenen
Genossen jemals wiedersehen? Genösse L. wünschte mir eine gute
Landung, eine glückliche Ankunft am Einsatzort und ein erfolgreiches
Zusammentreffen mit meinen Schwiegereltern. Falls ich jedoch Pech hätte
und in die Klauen des Gegners fiele, sollte ich von jedem Mittel der Täuschung
Gebrauch machen.
Auf dem Feldflugplatz stand eine amerikanische
«Boston» bereit zum Start. Noch einmal umarmte mich mein
Vorgesetzter, und ich bestieg den Rumpf des Flugzeuges. In der Kabine nahmen
mich ein Hauptmann und ein Sergeant in Empfang.
Die Motoren liefen an - noch ein letztes
Winken durch das Bordfenster, und dann ging es los. Die Maschine hob gut
ab und nahm Kurs auf Westen. Die Nacht war klar; man hatte gute Sicht.
Das brachte Vor- und Nachteile. Bei klarer Sicht konnte man auch vom Gegner
gut erkannt werden. Andererseits mußte man zur Orientierung klare
Sicht und zum punktuellen Absprung unbedingt über einen klaren Blick
zum Boden verfügen. Die Vorteile überwogen in diesem Falle.
Nach ungefähr einer Flugstunde war
es soweit. Der Hauptmann gab mir das Zeichen zum Fertigmachen. Beide, Hauptmann
und Sergeant, halfen mir, den Fallschirm anzulegen: vor die Brust kam der
Wehrmachtrucksack, und zwischen die Beine wurde die starke Leine eingehängt,
an der der Lederkoffer befestigt war. Das Finnmesser steckte im rechten
Stiefelschaft. Der Sergeant öffnete die Bodenluke, und die Erde wurde
sichtbar. Wir blickten alle drei angestrengt auf die Signalanlage an der
rechten Bordwand, die die Kabine von der Flugzeugkanzel trennte. Wenn die
erste rote Lampe im Intervall aufblinkte, hieß das: Einsteigen in
den Schacht. Der Hauptmann und der Sergeant drückten mich noch einmal,
der Hauptmann gab mir nach alter russischer Sitte einen Bruderkuß
auf beide Wangen. Er schaute mir ernst in die Augen, mit den Händen
meine Schulter haltend. Sein Blick sagte alles: Genosse, du wirst auf deinen
schwersten Gang geschickt!
Dann wurde der Koffer durch die Luke geschoben,
und schon verspürte ich den starken Sog des Flugwindes. Als ich die
Beine durch die Luke steckte, glaubte ich, sie würden mir abgerissen.
Ich sah noch einmal den Höhenmesser - er zeigte 800 Meter, dann flackerten
zwei rote Lampen im Intervall auf: Das war das Kommando zum Absprung. Der
Hauptmann und der Sergeant drückten mich mit aller Kraft durch die
Luke. Ein nicht leichtes Unterfangen, denn beides war sehr sperrig: der
Fallschirm hinten und der Rucksack vorn -der Brustkorb wurde mir schier
eingedrückt.
Ich schoß hinab. Automatisch zählte
ich: einundzwanzig -zweiundzwanzig - dreiundzwanzig und zog dann die Fallschirmleine.
Ein mächtiges Rauschen über mir, ein plötzlicher starker
Schlag in beiden Achselhöhlen - ich hing am Fallschirm. Unter mir
sah ich, schemenhaft vom Mondlicht beleuchtet, die Konturen meines Landungsgebietes,
wie auf der Karte ausgemacht. Blitzartig, nur für Sekundenbruchteile,
sprach mein angespanntes Gehirn lautlos die Worte: Das haben die Genossen
der «Boston» ausgezeichnet hingekriegt!
Nun mußte ich schon an den Leinen
ziehen, um nicht zu sehr abzudriften, denn rechts vor mir erblickte ich
das Haff. Dann hämmerte es in mir: Was ist, wenn man das Flugzeug
und deinen Absprung bemerkt hat? Unwillkürlich faßte ich kurz
nach meiner Pistolentasche - doch immer näher kam der Boden, und ich
war gezwungen, mich auf die Landung zu konzentrieren. Du mußt gut
landen! befahl ich mir selbst, darfst dir nicht den Fuß verstauchen.
Ich zog wieder an den Leinen, um den Fallschirm auf eine größere
Lichtung zu bringen.
Nun ging alles rasend schnell. Der Koffer
plumpste auf; ich zog die Knie an und stampfte auf die Erde. Zum Glück
- der damalige Landeplatz hat sich seither
kaum verändert - war der Boden weich. Der Fallschirm, der vor mir
lag und durch einen leichten Windstoß wieder kurz aufgebläht
wurde, riß mich nach vorn. Ich griff in meinen rechten Stiefelschaft,
um das scharfe Finnmesser zu fassen. Doch es war nicht mehr da, also beim
Absprung verlorengegangen. Nun konnte ich die Seile des Fallschirms nicht
kappen. Sofort warf ich den Rucksack ab und löste danach ebenso schnell
die Fallschirmgurte vom Körper. Das erschien mir in diesem Augenblick
eine zeitraubende, langwierige Prozedur, wenngleich es höchstens eine
Minute in Anspruch nahm.
Ich war genau 22 Uhr MEZ ungefähr
einen Kilometer vom Westausgang Leopoldshagens, hart an der Landstraße
nach Mönkebude, gelandet. Der Absprungplatz war also richtig ausgewählt
worden. Die gründliche Vorbereitung hatte sich gelohnt.
[google earth]
Während der Landung hatte ich aufmerksam
meine Umgebung beobachtet. So hatte ich sofort die Scheinwerfer eines Kraftfahrzeuges
in der Ferne bemerkt. Deshalb raffte ich in größter Eile meinen
Fallschirm zusammen, der sich bei jedem Windstoß erneut aufblähte
und leicht zum Verräter für mich werden konnte. .Es wurde auch
höchste Zeit. Als ich die leuchtenden Seidenbahnen in das Dunkel des
Waldes^ gebracht hatte, war das Fahrzeug schon heran.
Ich legte meinen Rucksack auf das Fallschirmbündel,
um zunächst meinen Landeplatz aufzuklären und zu sichern. In
dem angrenzenden Wald bereitete ich mir ein Versteck vor, das mich vor
unliebsamer Entdeckung schützte. Meinen Fallschirm, den ich fest zusammengeschnürt
hatte, warf ich in den Wassergraben, der Wald und Landeplatz trennte, und
schüttete Erde und Laub darauf. Ich hätte ihn eigentlich tief
vergraben müssen, doch ich hatte nicht nur das Finnmesser, sondern
auch den Spaten, der am Rucksack befestigt gewesen war, verloren.
Nun machte ich mich daran, Koffer und Rucksack
umzupacken. Meine Zivilausstattung sowie einige überflüssige
Konserven - alles «Made in Germany» - verstaute ich in den
Rucksack, aus dem ich zuvor meine Offiziersmütze geholt hatte. Beim
Absprung trug ich eine Fliegerhaube, ähnlich jenen Hauben, die man
in den dreißiger Jahren und auch noch nach 1945 zum Motorradfahren
benutzte. Auch diese Haube verscharrte ich etwas später im Walde.
Mein Lederkoffer, der seiner Größe
nach dem Gepäck eines Hauptmanns angepaßt erschien und somit
keine Aufmerksamkeit erregte, war jedoch ungewöhnlich schwer. Sobald
ihn ein Fremder in die Hand nahm, mußte das Gewicht Erstaunen hervorrufen.
Außer einem Oberhemd, einem Paar Socken, Unterwäsche und dem
üblichen Kulturbeutel waren darin ja mehrere Trockenbatterien, ein
Transformator und ein Funkgerät untergebracht. Alles in allem, so
schätze ich, wog der schöne Lederkoffer einen halben Zentner.
Und dieses Übergewicht war ihm auch
beim Absprung nicht gut bekommen. Zwischen den beiden Schlössern war
die Versteifung der Deckelleiste gebrochen und bog sich beim Aufheben so
wie eine aufgeplatzte Hosennaht nach außen. Zum Glück verfügte
ich noch über einen Lederriemen, um damit den Koffer an der brüchigen
Stelle zusammenhalten zu können.
Den Rucksack versenkte ich in einem größeren
Loch, das ich am Fuße eines dickstämmigen Baumes entdeckt hatte,
stopfte es gut mit Laub zu und prägte mir die Stelle ein.
Meine Nerven waren allmählich in
eine starke Spannung geraten, zumal der Verlust des Finnmessers, aber besonders
des Feldspatens mich zusätzlich belasteten. Es beunruhigte mich stark,
daß ich den Fallschirm nur provisorisch verbergen konnte. Doch ich
zwang mich, der Aufregung Herr zu werden.
Inzwischen zeigte die Uhr 11 - 23.00 Uhr
an. Bis zum anbrechenden Morgen konnte ich nichts unternehmen.
Dorfbewohner gehen frühzeitig zu Bett.
Außerdem, welchen Zweck hätte es gehabt, in der Nacht bei jemandem
anzuklopfen, da doch mit Bestimmtheit anzunehmen war, daß in diesem
Dorf keine Verkehrsmöglichkeit nach Ducherow mehr gegeb war. Ich mußte
den Tagesbeginn abwarten.
Allmählich wurde ich wieder ruhiger.
Die Stille der Natur tat ein übriges. Mich verlangte nach einer Zigarette.
Unter Beachtung aller Vorsichtsmaßregeln - weder der Feuerschein
des Streichholzes noch die Glut der brennenden Zigarette durften zu sehen
sein - steckte ich eine an. Ich legte mich dabei flach auf den nadelgepolsterten
Waldboden. Nun konzentrierte ich meine Gedanken auf die weiteren Schritte.
Außer dem Fahrzeug bei meiner Landung
hatte sich nichts mehr auf der Straße bewegt. Alles um mich herum
atmete Stille. Es schien, als sei der Wald mit den Dorfbewohnern eingeschlafen,
und nur der Mond, dieser kalt dreinschauende Geselle, leistete mir Gesellschaft.
Mit seinem, wenn auch matten und milchigen Schein beleuchtete er die Straße
Mönkebude - Leopoldshagen.
Weit und breit war kein Mensch zu sehen.
Erst gegen 4.30 Uhr bemerkte ich eine Frau, die auf der Landstraße
nach Leopoldshagen ging. Als drei weitere Frauen vorbeikamen, trat ich
unbemerkt aus dem Wald und folgte ihnen.
Nach und nach holte ich die Frauen ein.
Ich sprach sie an und fragte, wie man von hier nach Ducherow käme
und wann ein Zug von dort nach Stralsund fahre. Sie sagten, daß sie
ebenfalls nach Ducherow müßten, um den Frühzug nach Swi-nemünde
zu erreichen. An eine Fahrgelegenheit sei aber nicht zu denken, sie gingen
zu Fuß nach Ducherow. Für mich war ein Fußmarsch von etwa
acht Kilometern mit dem gefährlichen Koffer ausgeschlossen. Ich mußte
jemanden auftreiben, der mich zum Bahnhof brachte.
Kurz entschlossen klopfte ich in Leopoldshagen
beim ersten besten Haus an, das einen Lichtschein zeigte. Vorhang und Gardine
wurden beiseite geschoben, und ein hageres, bebrilltes Gesicht schaute
mich für einen Augenblick erstaunt an. Dann wurde der Fensterriegel
von innen hochgehoben. Der Mann - ein Schneider, wie ich feststellte -
redete mich mit unverkennbar bitterem Unterton in der Stimme an: «Na,
Herr Hauptmann, ist der Krieg nun bald zu Ende?»
«Schön wär's», antwortete
ich und erkundigte mich nach einer Fahrmöglichkeit.
«Der einzige, der noch Pferd und
Wagen besitzt, ist der Ortsgruppenleiter und Ortsbauernführer. Sein
Hof liegt neben der Post. Da müßten Sie Ihr Glück versuchen,
alles Gute!» Damit ging das Fenster wieder zu.
Der Hinweis des Schneiders stimmte mich
hoffnungsvoll. Ein Bauer, der in seiner Person zwei Funktionen der Nazipartei
vereinigte, würde schon geneigt sein, einem Wehrmachtoffizier zu helfen.
So war es tatsächlich. Als ich mit
einem kräftigen «Heil Hitler» die Bauernstube betrat,
erhob sich der Hausherr von seinem Stuhl - er saß mit seiner Frau
beim Frühstück - und fragte: «Womit, Herr Hauptmann, kann
ich dienen?»
«Herr Beese», ich redete ihn
mit seinem Familiennamen an, meine Vorstellung absichtlich umgehend, «der
Schneider am Eingang des Dorfes hat mich an Sie verwiesen, weil Sie vielleicht
in der Lage sind, mich mit dem Pferdegespann zum Bahnhof zu bringen.»
Ich fügte hinzu, es handle sich um einen wichtigen Dienstauftrag.
Ohne mich zu fragen, woher ich zu so früher
Stunde gekommen sei, lud der Bauer mich freundlich ein, mit seiner Frau
und ihm zu frühstücken. Die Hausfrau hatte indessen schon einen
dritten Stuhl an den Tisch geschoben und bat mich, Platz zu nehmen.
«Da hat man Sie richtig eingewiesen»,
setzte der Bauer das Gespräch fort, und aus seinen Worten war Freude
und Stolz zu spüren, daß er, der Amtsträger der NSDAP,
in der Lage war, einem Offizier seines Führers behilflich sein zu
können. Er rechne es sich als Ehre an, versicherte er mir ein ums
andere mal, mich persönlich nach Ducherow zu fahren. Auch wenn er
zehn Knechte besäße, er würde niemand auf den Bock lassen.
Die unterwürfige Dienstbeflissenheit des Bauern ließ mich an
den Hauptmann von Köpenick denken. Hier in Leopoldshagen schien ein
Eiland dieses kleinbürgerlichen Autoritätsfimmels erhalten geblieben,
denn Hauptleute, dachte ich, gibt's doch inzwischen wie Sand am Meer. Aber
augenscheinlich zahlte sich dieser Dienstgrad noch immer
aus. Ich konnte mich glücklich schätzen,
auf einen Übereifrigen gestoßen zu sein.
Nachdem wir gegessen hatten, spannte Beese
an, und ich verstaute meinen Koffer auf dem Wagen, ehe der Hausherr dazu
kam, ihn mir abzunehmen.
Das Gefährt, ein einfacher Flachwagen
mit Kutschbock, wurde von einem kräftigen Braunen gezogen. Bald hatten
wir die Hohe Heide, ein Waldgebiet zwischen Ducherow und Ueckermünde,
erreicht. An der Gabelung der Landstraße erblickten wir plötzlich
einen SS-Offizier, der hoch zu Roß vor einer Kolonne von KZ-Häftlingen
ritt. Ein sich müde dahin-schleppender Elendszug von annähernd
zweihundert menschlichen Wracks, in gestreifter Kluft mit einem farbigen
Dreieck und einer Nummer auf der linken Brustseite, folgte dem SS-Führer
in gebotenem Abstand. Bewacher umkreisten die erschöpften Menschen,
brüllten und schlugen mit Peitschen auf sie ein.
Diese unerwartete Begegnung rief in mir
Erschütterung und Haß hervor. Wut erfaßte mich über
die eigene Ohnmacht, hier nicht eingreifen zu können.
Wir waren inzwischen auf unserem Gespann
so nahe an die Kolonne herangerumpelt, daß der voranreitende Hauptsturmführer
- so Wiesen ihn die Kragenspiegel aus - seinen Blick zu uns drehte und
mich scharf musterte. Um Komplikationen zu vermeiden, hob ich meinen Arm
zum «deutschen Gruß», den der SS-Mann auch unverzüglich
erwiderte.
Als wir die Kolonne passiert hatten, die
bald vom dichten Wald aufgenommen wurde, konnte ich mir die Bemerkung nicht
verkneifen: «Diese Dinge sind vom Ausland registriert worden. Sollte
der Krieg für uns schlecht ausgehen, erhalten wir nachträglich
dafür die Quittung!»
Der Ortsbauernführer, der gleich
mir schweigsam den Todeszug betrachtet hatte, verriet nun, daß auch
er betroffen
war. «Mein Gott, wie kann derartiges
geschehen? Bisher habe ich so etwas nicht für möglich gehalten
und als Verleumdung abgetan. Wie kann man nur auf wehrlose Menschen dermaßen
einschlagen? Wo mögen die armen Kerle nur herkommen? Hier hat es doch
keine Lager gegeben.»
Damit war der Gesprächsfaden zwischen
uns abgeschnitten, und jeder hing seinen Gedanken nach.
Kurz vor 9 Uhr waren wir an Ort und Stelle,
Mein diensteifriger Begleiter wünschte mir alles Gute und vor allem
glückliche Heimkehr zu meiner Familie. Auf seinem Gesicht las ich
jetzt Nachdenklichkeit. Ich bedankte mich und hatte alle Mühe, ihn
davon abzuhalten, mich zum Bahnsteig zu begleiten und mir den Koffer zu
tragen.
Die Papiere aller Soldaten und Offiziere,
unabhängig vom Dienstgrad, wurden durch einen Feldwebel der Waffen-SS
kontrolliert. Würden meine dem Augenschein standhalten? -Nun, es ging
ohne Beanstandung ab, obwohl die Dokumente eingehend geprüft wurden.
Auf dem kleinen Bahnhof wimmelte es nur
so von Soldaten und Offizieren aller Waffengattungen. Es gab ein Geschiebe
und Gehaste wie in einem aufgescheuchten Ameisenhaufen. Mich setzte die
überaus große Anzahl von Offizieren in Erstaunen. Soweit ich
mich erinnern kann, sah ich kaum Zivilisten.
Der Zug nach Swinemünde (Swinoujscie)
hatte Verspätung. Zum Glück bekam ich einen Fensterplatz in einem
Abteil der für Offiziere reservierten 1. Klasse. Den Gesprächen
konnte ich entnehmen, daß alle nach Usedom kommandiert waren. Ich
hörte aufmerksam zu, um die Situation zu erfassen.
Ich erfuhr, daß die Offiziere und
Soldaten im Zug Truppenteilen angehörten, die von der Halbinsel Heia
(Hei) kamen und bei Kolberg (Kotobrzeg) durch die Rote Armee geschlagen
worden waren. Nun hatten sie in den Auffangstellen von Stettin (Szczecin)
neue Einsatzbefehle erhalten.
Durch ständige Aufenthalte wegen
des starken Gegenverkehrs kamen wir mit erheblicher Verspätung erst
gegen 18 Uhr in Swinemünde an.
Als ich die Bahnhofshalle betrat, mehr
gestoßen und geschoben als gehend, erblickte ich auf dem Vorplatz
drei an langen Pfählen aufgehängte Menschen - ein Soldat, ein
Zivilist, eine Frau - , jeder mit einem Pappschild auf der Brust: «Ich
bin ein Deserteur» - «Ich bin ein Plünderer und Saboteur»
- «Ich habe Rassenschande begangen».
Dieses Bild des Grauens traf mich so,
als hätte mir einer einen Schlag ins Gesicht versetzt.
Man muß sich vergegenwärtigen:
Swinemünde war ein exklusives Seebad, bis Kriegsbeginn einer der Sommertreffpunkte
der oberen Zehntausend. Noch im Mai 1940, als ich bei einem Kurzurlaub
meine Schwiegereltern besucht hatte, war mir die Stadt mit ihren schönen
Anlagen, dem herrlichen Kurpark und dem weißen Strand als Idylle
erschienen. Und jetzt - ein Stück mittelalterlicher Richtstätte.
Bestürzt wandte ich mich ab. Genauso
bestürzt war ich über den Menschenstrom, der - so schien es mir
wenigstens - gleichgültig an den Gehängten vorbeiflutete.
Es versteht sich von selbst, daß
hier weder ein Taxi noch, wie 1940, eine Pferdedroschke anzutreffen war.
Doch mit dem schweren Koffer konnte ich unmöglich zu Fuß bis
zur Wohnung meiner Schwiegereltern gehen. Das würde die Aufmerksamkeit
von Passanten hervorgerufen haben. In der Gepäckaufbewahrung durfte
ich meinen Koffer aus Sicherheitsgründen nicht abgeben. Was tun, sprach
Zeus.
Mir fiel diese Redewendung ein, die wir
als Schüler oft gebraucht hatten. Während ich noch überlegte,
wie ich wohl zur Kurparkstraße gelangen könnte, sah ich den
alten Dienstmann Schröder, der mir bei meinem letzten Besuch das Gepäck
zur Wohnung meiner Schwiegereltern gebracht hatte. «Dienstmänner»
gab es früher auf allen Bahnhöfen der Reichsbahn. Sie trugen
eine Art Uniformmütze, an deren Borde vorn ein Messingschild mit der
Aufschrift «Dienstmann» befestigt war.
Schröder verließ gerade mit
seinem voll beladenen Flachwagen den Bahnhofsvorplatz. Ich drängte
mich durch das Menschengewimmel, zumeist Soldaten und Offiziere. Als ich
den Wagen erreichte, sprach ich Schröder an. «Kennen Sie zufällig
Oberst Freiherr von Wachtmeister? Ich bin der Freund seines Schwiegersohnes.»
Ich hatte ihn mit Bedacht so angeredet,
obwohl ich wußte, daß mein Schwiegervater für ihn kein
Unbekannter sein konnte. Meine Rechnung ging auf. Kaum hatte er den Namen
vernommen, kam es etwas traurig über seine Lippen: «Ach Gott,
wer sollte den guten Oberst von Wachtmeister nicht kennen, der hat doch
vor dem Krieg immer mit uns Skat gespielt.» Mein Schwiegervater war
sehr leutselig und hatte nicht selten in dem Bier- und Weinrestaurant Eggebrecht
an der Lotsenstraße
mit
Droschkenkutschern, Taxichauffeuren und Dienstleuten zusammen gesessen.
«Dort wollen Sie hin», setzte
Schröder seine Rede fort, «aber die armen Leute sind bei dem
letzten schweren Luftangriff ausgebombt worden. Der Oberst und die Frau
Baronin wohnen jetzt im Haus der Familie Dr. Kemp, die Swinemünde
verlassen haben. Wenn Sie Gepäck haben, müssen Sie warten, bis
ich wieder zurück bin!»
Doch warten wollte ich auf keinen Fall.
Mit einer Schachtel Zigaretten erreichte ich, daß er meinen Koffer
noch auflud. Eine Packung Zigaretten oder 100 Gramm Kaffee bewirkten in
jener Zeit wahre Wunder. Dafür konnte man für eine Woche ein
Zimmer bekommen oder einen guten Anzug und anderes mehr.
Swinemünde war am 12.3.45
bombardiert worden. Von der Roten Armee befreit wurde es erst
- nach Hitlers Tod - am 3.5.45. Rokossowskis 2. Belorussische Armee - bekannt
aus Stalingrad - hatte eine wichtigere Stoßrichtung: Berlin. |
Ich kam mir an der Seite des Dienstmannes
vor, als hätte ich das große Los gezogen. Wie hätte ich
denn sonst so schnell zu meinen Schwiegereltern kommen können? Allein
die Mitteilung, daß die Eltern meiner Frau noch lebten, noch in der
Stadt wohnten und nicht evakuiert waren, war Gold wert.
Je weiter wir uns vom Bahnhof entfernten,
desto mehr lichtete sich der Strom der Uniformierten. Wir näherten
uns schon dem Villenviertel der Stadt.
Dann hatten wir das Haus von Dr. Kemp,
Robert-Koch-Straße 16, erreicht. Es war einmal Eigentum meiner Schwiegermutter
gewesen. Ewig in Geldnot, weil meine Schwiegereltern stets «standesgemäß»
leben wollten, wozu die Offizierspension nicht ausreichte, war das Haus
verkauft worden.
Als sich in diesem Gebäude niemand
meldete, verwies mich Herr Schröder auf das Haus der Cousine meiner
Schwiegermutter, Käthe von Heyden, schräg gegenüber. Dort,
bei dem ältlichen Fräulein, war mir endlich das Glück hold.
Sie öffnete selbst die Haustür
und zeigte sich sehr erstaunt, als ein Offizier seinen Koffer vom Flachwagen
des Dienstmannes nahm, diesen reichlich entlohnte und mit herzlichem Dank
verabschiedete.
«Wer sind Sie, und was wollen Sie?»
fragte sie mit leichter Empörung in der Stimme, als ich, ohne mich
vorzustellen -was in ihren Kreisen nicht üblich war — etwas energisch
bat, eintreten zu dürfen. Ich merkte, daß sie mich ebensowenig
wiedererkannte wie Schröder. «Ich suche Herrn und Frau von Wachtmeister.
Herr Schröder riet mir, bei Ihnen nachzufragen.»
Meine Antwort entlockte der alten Dame
ein einladendes
Lächeln. Nachdem ich dann meinen
illegalen Namen genannt hatte - solange ich mich draußen befand,
wollte ich mich nicht zu erkennen geben -, bat mich Käthe von Heyden
einzutreten. Sie fügte hinzu, ich hätte Glück. Ihre Cousine
und deren Mann seien zu einem kurzen Besuch bei ihr.
Schon seit sie mir geöffnet hätte,
stand ein etwa achtzehnjähriges Mädchen hinter ihr. Wie ich später
erfuhr, handelte es sich um ihre schwachsinnige Nichte Karin. Um das Mädchen
vor einem faschistischen Arbeitslager zu retten, hatte sie Karin pro forma
als Hausgehilfin angestellt. Das Mädchen folgte dem kurzen Gespräch
ohne sichtbare Anteilnahme. Käthe von Heyden ging nun voran, klopfte
kurz an die Tür ihres kleinen Salons und sagte beim Öffnen zu
meiner Schwiegermutter: «Anni, hier bringe ich euch einen Gast!»
Als ich dann das Zimmer betrat, schauten
die beiden alten Leute - mein Schwiegervater war inzwischen über 75
Jahre und seine Frau 66 Jahre alt geworden - verwundert zu mir auf. Wer
mochte dieser Offizier zu abendlicher Stunde sein, man erwartete doch schon
seit geraumer Zeit keinen Besuch mehr. Doch es dauerte nur Sekunden, als
beider Gesichtszüge grenzenloses Erstaunen, vermischt mit Erschrecken
ausdrückten: War es Wirklichkeit oder eine Geistererscheinung? Der
«Totgesagte» stand leibhaftig vor ihnen.
Die innere Bewegung der drei alten Leute
- auch Käthe von Heyden hatte mich nun wiedererkannt - übertrug
sich auf mich.
«Mein Gott, Axel», sagte meine
Schwiegermutter zu ihrem Mann. «Das ist wahrhaftig der Rudi!»
Alle drei begrüßten mich auf das herzlichste. Dann kam die Frage,
die ich erwartet und befürchtet hatte: «Wie kommst du denn hierher?»
Was konnte, was durfte ich ihnen über
meinen geheimen Auftrag verraten? Ich hatte meine Schwiegereltern zum letztenmal
vor fünf Jahren gesehen. War ihre Einstellung die gleiche geblieben?
Damals hatten sie das faschistische Regime abgelehnt. Selbst wenn sich
ihre Haltung nicht^verändert hatte, und das war eigentlich anzunehmen,
würden sie auch bereit sein, mich zu unterstützen?
Ich entschloß mich - mir blieb auch
keine andere Wahl -, ihnen anzuvertrauen, daß ich mich unter falschem
Namen in der Stadt befand. «Wenn ihr euer und mein Leben nicht gefährden
wollt», erklärte ich meinen Angehörigen, «dann sprecht
möglichst mit niemandem über mein Auftauchen. Falls jemand aus
der Nachbarschaft etwas bemerkt haben sollte und fragt, dann erklärt
ihm, ich sei ein Freund eures verschollenen Schwiegersohnes. Hier in Swinemünde
wimmelt es ja jetzt von Militär, da wird der Besuch eines Offiziers
in eurer Umgebung nicht weiter auffallen.»
Dann brachte ich das Gespräch vorsichtig
auf den Bund
Deutscher Offiziere. Meine Schwiegereltern und Tante Käthe hörten
offensichtlich nicht zum erstenmal von der «Bewegung
Seydlitz», wie sie es nannten. Es war ihnen anzumerken, daß
sie die Handlungsweise dieser Männer billigten.
«Wir haben es ja immer geahnt»,
unterbrachen mich meine Schwiegermutter und Tante Käthe fast gleichzeitig,
«daß du lebst und dich in russischer Gefangenschaft befindest.
Der Greuelpropaganda, die Rote Armee mache keine Gefangenen, haben wir
nie geglaubt. So etwas ist für Dumme und Verbohrte bestimmt.»
Als sie dann von der «Bewegung Seydlitz» erfuhren, hätten
sie angenommen, ich würde dabei bestimmt mitmachen.
Nachdem ich mit Freude feststellte, daß
sich an der Gesinnung meiner Angehörigen nichts geändert hatte,
brannte es mir auf den Nägeln, vor allem zunächst einmal zu erfahren,
wie es um Barbara, meine Frau, und um unsere beiden Kinder bestellt war.
Meinen kleinen Sohn hatte ich ja noch gar nicht zu Gesicht bekommen. Meine
Schwiegermutter mußte mir meine Gefühlsregung am Gesicht abgelesen
haben, denn im gleichen Augenblick, als ich mich nach meiner Familie erkundigen
wollte, reichte mir Schwiegermutter ein Foto von meinen drei Lieben. Es
zeigte meinen Sohn Axel, für seine drei Jahre ein strammes Kerlchen.
Unsere Tochter hatte sich mächtig herausgemacht; das pausbäckige
Gesicht von dicken langen Zöpfen umrahmt. Ich war noch in den Anblick
des Fotos -" vertieft, da hörte ich Muttchens angenehme Stimme: «Rudi,
wir haben seit über einem halben Jahr keine Post mehr von Barbara
erhalten. Ob das mit der Landung der angloamerikanischen Truppen zusammenhängt?»
Ich erfuhr, daß Gronau, eine Stadt
nahe der holländischen Grenze, in der meine Familie wohnte, von Luftangriffen
verschont geblieben war. Das beruhigte mich ein wenig. «Dieser verdammte,
gräßliche Krieg hat alle Familienbande zerrissen!» bemerkte
mein Schwiegervater ergrimmt.
Damit waren wir wieder beim Thema Kriegsgeschehen,
und ich erzählte, daß sich General von Seydlitz mehrfach an
der vordersten Front aufgehalten und versucht habe, eingeschlossene deutsche
Truppen zur Kapitulation zu bewegen, um den Soldaten und Offizieren das
bittere Los von Stalingrad zu ersparen. Als Beispiele schilderte ich Einzelheiten
vom Kessel bei Korsun-Schewtschenkowski. Das Kommando der Roten Armee habe
großzügige Kapitulationsbedingungen unterbreitet, doch SS-General
Gille ließ den Kommandierenden General des XI. Armeekorps, Stemmermann,
mit dem Seydlitz brieflich in Verbindung stand, hinterrücks erschießen.
Trotzdem sei es einigen hundert Soldaten mit ihren Offizieren gelungen,
zur Roten Armee überzutreten. Als ich von Stem-mermanns Ermordung
berichtete^ unterbrach mich Tante Käthe. Vor innerer Erregung bildeten
sich auf ihren Wangen rote Flecken. «Meinen guten Schimonsky»,
sie meinte ihren Lebensgefährten, Major a. D. Baron von Schimonsky,
«hat diese Bande auch verhaftet. Er hat auch nicht geschwiegen; er
hat Gedichte gegen Hitler und seine Spießgesellen verfaßt und
vervielfältigt. Ihn muß jemand denunziert haben. Morgens in
aller Frühe kam die Gestapo, hat ihn in übelster Art beschimpft
und wie ein Stück Vieh in einen Wagen gestoßen.»
Ich 'erfuhr, daß daraufhin sowohl
Tante Käthe wie auch meine Schwiegereltern von der Gestapo verhört
worden waren. Man schenkte ihren Beteuerungen, nichts vom Handeln des Majors
gewußt zu haben, wenig Glauben und drohte ihnen Bestrafung an.
Für mich waren das keine erfreulichen
Nachrichten. Ich mußte befürchten, daß die Gestapo meine
Schwiegereltern und Käthe von Heyden beobachtete. Bei mir wurden dadurch
Signale gesetzt.
Längst war der Abend hereingebrochen.
Hier war alles streng verdunkelt, denn Usedom/Wollin lag im unmittelbaren
Bereich der angreifenden sowjetischen Fronten. Ich verabschiedete mich
herzlich Von Tante Käthe und verließ mit meinen Schwiegereltern
das Haus, um ihre Wohnung aufzusuchen.
«Bei dem vielen Erzählen und
all den aufregenden Dingen haben wir selbst unseren Hunger vergessen»,
meinte meine Schwiegermutter, als wir in der Wohnung waren und ich den
Koffer geöffnet hatte, um ihr ein paar Konserven zu übergeben.
«Axel, setzt euch bitte in das Wohnzimmer», bat sie dann ihren
Mann, «und entschuldigt mich, bis ich das Abendbrot fertig habe.»
Mein Schwiegervater - das hatte ich schon
bei unserem Wiedersehen bemerkt — schien mir körperlich und nervlich
völlig entkräftet. Seine Augen lagen tief und dunkel in den Höhlen,
die Wangen waren stark eingefallen. Er schlang eine Tafel Schokolade, die
ich beiden geschenkt hatte, in wenigen Minuten mit einer Gier hinunter,
wie das in normalen Zeiten seiner Lebensart ganz und gar widersprochen
hätte.
Die Lebensmittelration, erklärte
er mir, stehe in Swine-münde nur auf dem Papier. Was man der Bevölkerung
zuteile, liege weit darunter. Keiner dürfe dagegen aufmucken, das
hätte sein Ende, zumindest jedoch Gefängnis ^zur Folge.
Mein Schwiegervater war mit seinem Gardemaß
von 1,88 Meter Körperlänge immer ein schlanker* Mann von hohem,
aufrechtem Wuchs gewesen. Doch die Hungerration - «zum Leben zu wenig,
zum Sterben zu viel» — wirkte sich nun auf ihn besonders nachteilig
aus. Augenscheinlich litt er schon an einer starken Unterernährung.
Meiner Schwiegermutter, die ihrem Mann nur bis zur Schulter reichte, ging
es ein wenig besser, obwohl auch sie unter dem Hunger litt. Beiden fehlte
zudem jedes Geschick, sich zusätzlich etwas zum Essen aus den umliegenden
Dörfern zu beschaffen. Ihre nächsten Freunde und Bekannten, die
hätten helfen können, hatten nach und nach die Insel und die
Stadt verlassen.
Nach dem kargen Abendessen, zu dem meine
Schwiegermutter aber wie in Friedenszeiten Silberbesteck aufgelegt hatte,
erkundigten sich die beiden erneut nach dem eigentlichen Anlaß meines
plötzlichen Erscheinens.
«Ich hatte dich schon vorhin bei
Käthe danach gefragt», wandte sich mein Schwiegervater an mich,
«habe dann aber zum Aufbruch gedrängt, denn plötzlich fiel
mir ein: Was geht das Käthe an? Außerdem ist ihr Haus sehr hellhörig.
Was man nicht weiß -macht einen nicht heiß. Hier läßt
sich das besser erörtern.»
Im bisherigen Zusammensein mit meinen
Schwiegereltern hatte ich die Überzeugung gewohnen, sie würden
bereit' sein,
mich nach besten Kräften zu unterstützen.
Sie zweifelten
nicht daran, daß der Krieg für
das Hitlerregime unabänderlich verloren war und man das Verbrechen
so schnell wie möglich beenden mußte. Deshalb ging ich jetzt
direkt auf mein Ziel los. «Ihr beiden mit euren Beziehungen zu den
tonangebenden Leuten auf der Insel und in Swinemünde verfügt
doch gewiß auch über Kontakte zu antifaschistisch eingestellten
höheren Offizieren oder anderen einflußreichen Persönlichkeiten.
Mit ihrer Hilfe müßte Kurs darauf genommen werden, die Kämpfe
auf den Inseln einzustellen und eine friedliche Übergabe in die Wege
zu leiten. Das würde Zehntausenden Menschen auf beiden Seiten das
Leben retten und die Inseln mit ihren herrlichen Seebädern vor der
sinnlosen Zerstörung bewahren.»
Mein Schwiegervater hatte die Angewohnheit,
wenn er angestrengt nachdachte, die Unterlippe nach innen zu ziehen. Das
geschah .auch jetzt. Nach einer Weile des Schweigens sagte er dann sehr
bedächtig: «Wo sollen wir dich unterbringen? In diesem Haus
wohnt eine Beamtenfamilie, über deren politische Einstellung wir nichts
wissen. Außerdem haben wir die Zuweisung für einen Hauptmann,
dem man nachsagt, er sei ein fanatischer Nazi!»
Er legte eine Pause ein, um sich eine
Zigarette anzuzünden. Nach ein, zwei Zügen sprach er weiter.
«Unter diesen Bedingungen ist eine Unterbringung bei uns unmöglich.
Käthe, bei der zudem eine Gestapoangestellte wohnt, scheidet völlig
aus. Bekannte kommen nicht in Frage. Sie sind entweder ausgebombt, oder
mit Obdachlosen überfüllt. Die Stadt ist ja am zwölften
März furchtbar zerstört worden.» Und es gab noch ein weiteres
Problem. «Wir können dich nicht anmelden. Dadurch bekommst du
keine Lebensmittelkarten. Bei unseren Hungerrationen ist es unmöglich,
dich mit durchzuziehen. Die Konserven, die du mitgebracht hast, reichen
nicht lange.»
Er hustete, sein Asthma machte ihm zu
schaffen. Doch raffte er sich nach einer kurzen Verschnaufpause wieder
auf. «Die Unterbringung ist aber nur die eine Sache. Die andere sind
die von dir erwähnten Verbindungen. Bis in die ersten Kriegsjahre
war das auch der Fall. Aber seither hat sich viel geändert. Die Offiziere,
zu denen wir gute Beziehungen besaßen, sind alle im Fronteinsatz,
darunter der Garnisonkommandant und der Marinebefehlshaber. Wer jetzt hier
das Sagen hat, ist mir völlig unbekannt. Dr. Kemp hatte als Arzt weitläufige
Verbindungen. Doch er ist vor einiger Zeit nach Wyk auf Föhr gegangen.
Viele seiner Berufskollegen haben gleich ihm der Stadt den Rücken
gekehrt. Wer könnte hier noch auf das Geschehen Einfluß nehmen?»
Aus seinen Worten und Gebärden sprach
tiefe Hoffnungslosigkeit und Verärgerung, mir nicht helfen zu können.
Nach einer längeren Pause, in der er wohl gedanklich noch einmal prüfend
alles Revue passieren ließ, meinte er abschließend: «Es
tut uns unendlich leid, aber wir befinden uns in einer ausweglosen Lage.
Deinen Auftrag akzeptieren wir, dagegen ibt es von unserer Seite keine
Einwände. Nein — nein, absolut nicht. Aber die Voraussetzungen, ihn
durchzuführen, sind nicht gegeben! Das mußt du verstehen. Darum
bitten wir dich!»
So einleuchtend es mir schien, was mein
Schwiegervater gründlich durchdacht, ausgesprochen hatte — aber man
wird auch mich verstehen, daß ich auf keinen Fall so schnell aufgeben
wollte. Konnte ich nicht in die bombengeschädigte Wohnung meiner Schwiegereltern,
Kurparkstraße 18, ziehen, die sie nach dem Luftangriff verlassen
hatten? Den wenigen verbliebenen Mietern konnte man vielleicht erklären,
die Kommandantur habe einen Hauptmann in ein instandgesetztes Zimmer eingewiesen.
Das schien bei den chaotisch gewordenen Wohnungsverhältnissen recht
glaubhaft. Da meine Konserven für eine Woche reichten, blieb Zeit
zum Überlegen, wie ich den bei Leopoldshagen versteckten Rucksack
nach Swinemünde holen könnte. Die darin verpackten Lebensmittel
würden die Ernährung eine Zeitlang sicherstellen.
Meine Schwiegermutter, die sich bisher
noch gar nicht geäußert, aber sehr aufmerksam zugehört
hatte, meldete sich nunmehr zu Wort. «Ach, Axel, es mag alles schwer
sein, aber ich denke, man muß dem Jungen helfen. So wie er die Dinge
vorgebracht hat, müßte es doch möglich sein, daß
er bleiben kann.»
Mein Schwiegervater hob seine Augen und
schaute seine Frau mit offenem, traurigem Blick an. Dann sagte er mit seiner
warmen Stimme: «Nun Mamettchen, überschlafen wir alles. Morgen
werden wir weitersehen. Mach dem Jungen das Bett, er hat Tag und Nacht
wohl noch kein Auge zu getan!»
Danach erhob er sich, und nochmals zu
mir gewandt, setzte er hinzu: «Du hast jetzt deine Ruhe nötig
wie wir die unsere. Schlafe gut, das hilft deinen strapazierten Nerven!»
Mit diesem Gutenachtgruß verließ
er langsam das Zimmer.
Wie wohltuend empfand ich das frische Bett.
Da kam Muttchen nochmals herein, in der Hand ein Bild von meiner Frau und
unserem Sohn Axel. «So, da hast du etwas zum Einschlafen. Das wird
dir helfen, dich von den Belastungen der letzten Tage zu lösen. Ich
wünsche dir eine geruhsame Nacht!»
Mit diesen Worten verließ auch meine
Schwiegermutter das Zimmer, und ich war mit meinen Gedanken allein. Wie
mochte es jetzt daheim in Gronau aussehen? Wie mochte es Barbara und den
Kindern gehen?
Immer wieder nahm ich das Bild vom Nachttisch,
immer wieder stellte ich es dahin zurück. Schließlich löschte
ich das Licht und versuchte zu schlafen. Obwohl ich bereits über 36
Stunden kein Auge zugetan hatte - Mitterna'cht war bald erreicht -, konnte
ich keinen Schlaf finden. Neue Gedanken zerrten an mir: Wie konnte ich
mit der Zentrale in Funkverbindung treten, um wenigstens das zu melden,
was ich bisher an militärischen Fakten in Erfahrung gebracht hatte?
Für die Rote Armee wäre es wichtig zu wissen, daß sich
die Reste der geschlagenen Truppen von Kolberg auf Usedom sammelten. Oder
auch, daß Swinemünde mit Soldaten aller Waffengattungen, mit
italienischen Truppen, Polizeieinheiten und lettischen wie litauischen
SS-Verbänden (Livla) neben einem Strom von Flüchtlingen aus den
Ostgebieten vollgestopft war. Auch über meine eigene Situation mußte
ich die Genossen unterrichten: Beschädigung der Wohnung meiner Schwiegereltern
und die Verhaftung Schimonskys bei Käthe von Hey-den. Dazu gehörte
auch die Information, daß alle früheren gesellschaftlichen Beziehungen
meiner Verwandten bereits seit längerem aufgehoben oder abgerissen
waren.
Solange
ich jedoch noch nicht einmal über eine sichere Unterkunft verfügte,
war an Funken nicht zu denken. Sooft ich auch alles durchdachte, ich drehte
mich im Kreise und blieb
ohne Antwort. Erst als der Tag bereits graute,
fiel ich allmählich in einen Halbschlaf.
Der Morgen des 24. März war längst
angebrochen, als mich meine Schwiegermutter weckte. «Rudi, du kannst
aufstehen - das Bad ist frei!»
Als das Frühstück beendet war,
erhob sie sich, um das Geschirr abzuräumen. Mein Schwiegervater jedoch,
die Unterlippe wieder in den Mund gezogen, die Stirn in starke Falten gelegt,
schaute mich fest an, ehe er zu sprechen begann: «Wir haben die halbe
Nacht ein sehr ernstes Gespräch geführt. Muttchen und ich haben
auch deinen Vorschlag nochmals von allen Seiten beleuchtet. Wie gesagt,
die halbe Nacht ist darüber vergangen und bei mir die ganze. Wir sehen
keinen Weg, dir zu helfen. Es gibt vor allem keine Möglichkeit, dich
sicher unterzubringen. Alle unsere Bekannten, die gegen das Regime sind,
haben Usedom verlassen. Niemand von ihnen ist in erreichbarer Nähe.
Wir haben das alles eingehend Punkt für Punkt überprüft,
um keinern Irrtum zu unterliegen.»
Sowohl vom Reden wie von innerer Bewegung
angespannt und erregt, unterbrach er für Augenblicke, um mir dann
weiter zu erklären, daß es auch in der Kurparkstraße 18
keine Bleibe für mich gebe. «Nicht ein Mieter lebt mehr im Haus,
und deshalb würde es sofort auffallen, würdest du allein dort
einziehen.» Auch das Abholen meines versteckten Gepäcks sei
unmöglich. «Ich bin überhaupt nicht mehr in der Lage, dir
irgendwie körperlich behilflich zu sein. Ich bin restlos verbraucht»,
ließ sich mein Schwiegervater deprimiert vernehmen.
Die Schwiegermutter, die von nebenan mitgehört
.hatte, ergänzte: «Ich muß ihm in allem beipflichten.
So schmerzvoll das für uns alle ist, lieber Junge, du mußt uns
verlassen, solange noch Züge verkehren. Man munkelt bereits, daß
man die Stadt bald nur noch über die Ostsee verlassen kann. Vater
wird gleich zum Bahnhof gehen, um sich nach den Abfahrtszeiten der Züge
zu erkundigen!»
Damit waren die Würfel gefallen. Mein
Schwiegervater begab sich unverzüglich zum Bahnhof. Nach ungefähr
zwei Stunden kam er erschöpft zurück. «Junge», sagte
er, mehr keuchend als sprechend, als er ins Zimmer trat, «es ist
Schlimmeres eingetreten, als ich dir vorausgesagt habe. Schon unterwegs
sah ich an Litfaßsäulen, Mauerresten und so weiter riesengroße
Anschläge, auf denen mitgeteilt wird, daß die Oder zur Hauptkampflinie
erklärt worden sei. Alle Soldaten und Offiziere haben sich bis Sonntag
bei einem Truppenkommando oder Gefechtsstand bis fünf Kilometer westlich
der Oder zu melden. Alle anderen Dienstausweise oder Befehle haben nach
diesem Zeitpunkt ihre Gültigkeit verloren. Nach diesem Termin aufgegriffene
Soldaten werden einem Standgericht übergeben. Gleichzeitig ist über
die Stadt der Ausnahmezustand verhängt worden.»
Er hielt vor Anstrengung inne. Danach ergänzte
er, daß der Zugverkehr nach dem Westen und für Zivilpersonen
überhaupt gesperrt sei. Es verkehrten nur noch Militärzüge
in Richtung Ostfront. «Um 14.30 Uhr geht ein Zug in Richtung Stettin!»
schloß er.
Ich befand mich in einer ausweglosen Lage.
Auch für diesen Fall hatte ich mein Verhalten mit Oberst L. abgesprochen.
Deshalb entschloß ich mich, meinen Blankofahrschein nach Stettin
auszufüllen, um mich in einem sicheren Versteck von der Roten Armee
überrollen zu lassen. Doch das war leichter gesagt als getan.
Bis zur Abfahrt blieb genügend Zeit,
noch einige wichtige Dinge zu erledigen. Ich ließ den Transformator
meines Funkgerätes zurück. Er war für mich jetzt Ballast
geworden. Woher sollte ich noch Energie vom öffentlichen Leitungsnetz
nehmen, wenn schon in Swinemünde Stromausfäll die Regel bildete?
Die im Lederkoffer mitgeführten Trockenbatterien garantierten eine
große Sende- und Empfangskapazität. Ich bat meinen Schwiegervater,
den Transformator unter dem Kohlenberg in seinem geräumigen Keller
in der Kurparkstraße 18 zu verbergen. Sobald die Rote Armee die Stadt
eingenommen hätte, sollte er versuchen, einen Sicherheitsoffizier
zu sprechen und ihm über das Zusammentreffen mit mir berichten. Außerdem
übergab ich den Eltern noch die Hälfte meiner Konserven, Tee
und Kaffee. Jetzt hatte mein Koffer ein normales Gewicht, so daß
ich ihn mühelos tragen konnte.
Für den Fall, daß mich die Gestapo
fassen würde und meine Schwiegereltern in ihr Visier gerieten, sollten
sie aussagen, ich wäre bei ihnen angelaufen und hätte sie gebeten,
mich so lange zu verstecken, bis ich zu meiner Familie heimkehren könnte.
Das hätten sie strikt abgelehnt mit Ausnahme der einen Übernachtung,
da ich ihnen leid getan hätte.
Unser Wiedersehen völlig abzuleugnen,
hielt ich für problematisch, ja sogar für gefährlich, weil
sicherlich auch Tante Käthe und Karin verhört würden. Gerade
bei dem schwachsinnigen Mädchen lag die Gefahr nahe, daß sie
plauderte.
Mit Tränen in den Augen nahmen beide
von mir Abschied - umarmten und küßten mich. Sobald ich mich
dem Bahnhof näherte, füllte wieder das Gewimmel in feldgrauen,
blauen und schwarzen Uniformen die Straßen. Überall fiel der
Anschlag mit Hitlers Befehl ins Auge: «Die Oder ist die HKL ...»,
darunter Bekanntmachungen über vollzogene Todesstrafen an Soldaten
wegen oft geringfügiger Delikte; zur Abschreckung für alle übrigen.
Auf den Bahnsteigen war das Geschiebe, Gestoße
und Gedränge unbeschreiblich. Der Zug nach Stettin wurde hier erst
eingesetzt. Ich bekam Platz in einem Abteil, das ausdrücklich «Für
Offiziere» reserviert war. Eine Kontrolle auf dem Bahnhof wie vor
zwei Tagen fand nicht statt. Dafür sah Waffen-SS unsere Papiere im
fahrenden Zug durch.
In Ducherow mußten alle, die
nach Stettin fuhren, ausstei-, gen und auf den Anschlußzug warten.
Der längere Aufenthalt gab mir Gelegenheit, die auf dem Bahnsteig
anwesenden Personen, zu beobachten. Zwei Seeleute der Handelsmarine fielen
mir durch ihren lauten Ton inmitten einer Gruppe von Bahnhof Ducherow
an diesem Seiteneingang zum Bahnsteig nahm die SS scharfe Kontrollen vor
Soldaten und Eisenbahnern auf. Um besser zu verstehen, wovon sie redeten,
trat ich hinzu und bat um Feuer für meine Zigarette. Sie ließen
sich durch meine Anwesenheit nicht stören und fuhren fort, Nazigrößen
auf die Schippe zu nehmen. Ich wunderte mich, daß sie eine solche
Lippe riskierten. Aber die Umstehenden schien das nur zu amüsieren.
Wer weiß, vielleicht hing auch ihnen der Krieg zum Hals heraus. Die
Matrosen zeigten ihre Seemannsbücher herum. Danach waren sie u. k.
gestellt. Zugleich war darin vermerkt, daß sie sich im Hamburger
Seeamt zu melden hätten. Von dem Größeren der beiden hatte
ich mir noch den Namen merken.können: Forsack.
Als die beiden Seeleute den einfahrenden
Zug nach Stettin bestiegen, folgte ich ihnen. Von meinem Abteil aus konnte
ich sie sehen und hören, da sie schräg gegenüber von mir
Platz genommen hatten. In ihren Reden auf dem Bahnsteig hatten sie durchblicken
lassen, daß sie in Pasewalk übernachten wollten. Mir direkt
gegenüber saß ein hochdekorierter Oberstleutnant. Er trug das
Ritterkreuz.
Um so erstaunter war ich, als er Forsacks
politische Witze an mich gewandt mit den Worten kommentierte: «Der
Junge gefällt mir. Hoffentlich befindet sich hier kein Denunziant
im Waggon, sonst ist er reif!»
Durch diese Bemerkung wurde mein Interesse
von den beiden Seeleuten abgelenkt und konzentrierte sich ganz auf den
Oberstleutnant. Im Laufe des sich anbahnenden Gesprächs erzählte
er mir, daß er als Regimentskommandeur bereits drei Regimenter verheizen
mußte, und erbittert fügte er hinzu: «Ich bedaure nur,
nicht selbst den Tod gefunden zu haben.»
Unser Gespräch wurde durch dröhnendes
Motorengeräusch angreifender sowjetischer Jagdflugzeuge, vermengt
mit dem Tacken von Bordwaffen, unterbrochen. Die Bremsen des Zuges kreischten,
ruckartig stoppte er - wir flogen von den Bänken und stürzten
hinaus, um Deckung vor und hinter dem Bahndamm zu suchen. Bis Pasewalk
waren es ungefähr 35 Kilometer, und der Zug hielt noch dreimal wegen
solcher Angriffe.
Bei jedem dieser unfreiwilligen Aufenthalte
lag ich neben dem Oberstleutnant. Dabei lernte ich seine Ablehnung des
Hitlerregimes immer deutlicher kennen. Als er mir offenbarte, daß
er an der vordersten Front - die HKL lag bei Stettin - einen Truppenteil
übernehmen solle, bat ich ihn, mich dort in seinem Stab unterzubringen.
Ich hoffte, den Oberstleutnant für meinen Auftrag gewinnen zu können.
Er beantwortete meine Bitte zunächst
jovial. «Wenn alles so leicht zu erfüllen wäre! Da kann
ich Ihnen sofort meine Zustimmung geben.» Doch dann hielt er inne,
schaute mich durchdringend an und, als habe er meine Gedanken erraten,
fragte er mich ruhig, aber bestimmt: «Was versprechen Sie sich von
einer Indienststellung unter meinem Kommando?»
Als ich schwieg, fuhr er fort, daß
er das Gefühl nicht los werde, ich trüge etwas auf dem Herzen,
was ich wohl nicht gleich preisgeben wolle. Ihm könne ich alles sagen,
von ihm hätte ich nichts zu befürchten. «Ich gebe Ihnen
mein Wort darauf.»
Seine Person, sein ganzes Verhalten flößten
mir Zuversicht ein, und mir schien, daß die Stunde eingetreten sei,
die mich aus meiner Ungewissen Lage befreien und mir Bedingungen schaffen
würde, doch noch meinen Auftrag erfüllen zu können, wenn
auch an einem anderen Ort und unter veränderten Verhältnissen.
Eine einmalige Chance, die nicht vertan werden durfte. Als ich ihm antwortete,
knüpfte ich an seine Worte an, daß dieser verbrecherische Krieg
nicht fortgeführt werden dürfe. «Wer das erkannt hat»,
so schlußfolgerte ich, «sollte auch mithelfen, diesen Krieg
schnellstens zu beenden. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise,
mit der neu aufgestellten Truppe zu kapitulieren, kampflos auf die Seite
der Roten Armee zu treten, um auf beiden Seiten Tausenden das Leben zu
retten.»
Der Oberstleutnant fragte: «Und wie
soll eine kampflose Übergabe vonstatten gehen, ohne daß man
von beiden Seiten beschossen wird?»
Aus seiner Frage glaubte ich eine positive
Entscheidung herauszuhören. In Sekundenschnelle machte ich für
mich die Rechnung auf, daß diese einmalige Chance auch ein großes
Risiko wert sei. Deshalb vertraute ich ihm an: «Ich bin in der Lage,
Funkverbindung mit der Gegenseite herzustellen. Man ist dort zu jeder Zeit
darauf vorbereitet. Alle notwendigen Maßnahmen können abgesprochen
werden.»
Der Oberstleutnant bat mich erneut um eine
Zigarette. Ich hielt ihm die Schachtel und Feuer hin. Nach einem tiefen
Lungenzug erklärte er: «Mann, haben Sie Nerven. Und daß
es schiefgehen könnte, haben Sie wohl nicht einkalkuliert? Wenn die
SS und die geheime Feldpolizei, die jetzt überall ihre Augen und Ohren
haben, davon Wind kriegen, geht's uns genauso an den Kragen wie den Kameraden
vom 20. Juli. Selbst einem Generalfeldmarschall von Witzleben ist der Galgen
nicht erspart geblieben. Sie haben wohl keinen blassen Dunst, wie bei der
Gestapo gefoltert wird? Nein, nein, das alles könnte ich nie aushalten.
Eine Kugel in vorderster Linie, das wünsche ich mir sogar. Aber das
andere, niemals! Ich bewundere Sie, doch Sie tun mir auch leid. Denn ich
kann da nicht mitmachen. Ich werde von diesem sinnlosen Krieg bis zum bitteren
Ende durch die Mangel gedreht. Natürlich kann ich Sie bei mir unterbringen.
Sie brauchen ja nicht hervorzutreten, können für das Überleben
sorgen, aber alles andere ist nicht drin. Nichts für mich!»
Bei einem nochmaligen Aufenthalt des Zuges
versuchte ich erneut, in den Oberstleutnant zu dringen, ihn umzustimmen.
Doch alle Mühe war vergebens. Wie so
vielen fehlte es auch ihm an Zivilcourage. Hochdekoriert für die schlechteste,
die barbarischste Sache der Welt, fand er nicht den Mut zur Umkehr, sein
Leben und das von Tausenden anderen zu retten. Und das entgegen seiner
Einsicht in den verbrecherischen Charakter dieses Krieges.
Als der Zug am Abend endlich Pasewalk erreichte,
verabschiedete ich mich kurz-von dem Oberstleutnant. Er drückte mir
noch fest die Hand und wünschte mir viel Glück.
Ich mußte meine kurze starke Hoffnung
in einer herben Enttäuschung begraben.
Anfänglich ging diese Enttäuschung
in Niedergeschlagenheit über. Doch konnte ich mir das in meiner Lage
leisten? Ich mußte mich jetzt darauf konzentrieren, wie es weitergehen
sollte. In der Stadt durfte ich nicht auftauchen, da konnte ich leicht
ein Opfer der Feldgendarmerie werden. Aber wo sich verstecken, wo untertauchen
und vor allem, wie Kontakt zur Zentrale herstellen?
Mir fielen die beiden Matrosen ein, die während
der ganzen Fahrt weiter auf ihre Umgebung eingeredet hatten. Sie waren
wie ich in Pasewalk ausgestiegen. Ich sah, wie sie ihre Seesäcke am
Gepäckschalter abgaben. Wenn ich mich den beiden anschloß? Vielleicht
konnten sie mich mit Seemannskleidung versorgen? Außerdem würde
ich in Gesellschaft weniger auffallen als allein. Andererseits: Durfte
ich den Schritt wagen? Ihren Worten nach zu urteilen, schienen die beiden
Matrosen das Hitlerregime abzulehnen. Aber - war das ihre tatsächliche
Gesinnung? Waren sie womöglich als Provokateure eingesetzt? Doch wer
nicht wagt, der nicht gewinnt,
[Ja der Rudi - er wiederholt sich .:-)]
und mir blieb ja auch keine große Wahl.
Ich drängte mich in die Nähe der beiden Seeleute. Hinter ihnen
verließ ich den Bahnhof. Pasewalk war in tiefes Dunkel gehüllt.
Nach einiger Zeit sprach ich die beiden an.
Ich schlug ihnen vor, gemeinsam außerhalb der Stadt bei einem Bauern
Quartier zu nehmen. Sie willigten ein, wobei sie sich obendrein noch etwas
Anständiges zum Essen versprachen, weil es zweifelhaft schien, zu
so später Stunde im Seemannsheim überhaupt noch einen Imbiß
zu erhalten. Wir umgingen die Straßenkontrollen und erreichten unbehelligt
die Landstraße nach Prenzlau, die jetzige Fernverkehrsstraße
109.
Nachdem wir etwa einen Kilometer geradeaus
gegangen waren, stießen wir auf ein abgelegenes Bauerngehöft,
das -vermutlich infolge der heranrückenden Front - von seinen Bewohnern
verlassen worden war. Wir ließen uns im Vorgarten nieder. Ich bot
Zigaretten an. Beim Rauchen kam ich auf die politischen Witze meiner Begleiter
zu sprechen. Ich gab vorsichtig zu verstehen, daß ich nicht mehr
an einen Sieg glaube und aus diesem Grunde beschlossen hätte, meine
Haut nicht weiter für diesen sinnlosen Krieg zu Markte zu tragen.
Da ich die Gesten und Bemerkungen als Zustimmung deutete, fuhr ich fort:
«Euren Gesprächen habe ich entnommen, daß ihr ähnlich
denkt. Ich habe mich euch angeschlossen, weil wir vielleicht gemeinsam
handeln könnten. Zuerst müßte ich meine Uniform loswerden.»
Forsacks Kamerad, der eine ähnliche
Statur wie ich hatte, unterbrach mich. «In unseren Seesäcken
stecken genügend Klamotten, und meine Sachen passen Ihnen bestimmt!»
Wir kamen überein, auf dem Bauernhof
die Nacht zu verbringen. Am nächsten Tag würden wir weitersehen.
Doch zunächst wollten meine neuen Bekannten ihre Seesäcke von
der Gepäckaufbewahrung holen. Ehe sie loszogen, aßen wir gemeinsam
von meinem Lebensmittelvorrat.
Vielleicht konnte ich nun doch noch eine Verbindung
zur Zentrale herstellen? Das Bauerngehöft eignete sich ausgezeichnet
für die Aufnahme des Funkverkehrs. Möglicherweise würden
auch die beiden Seeleute dafür zu gewinnen sein, nicht nur die eigene
Haut zu retten, sondern mich bei meinem Auftrag zu unterstützen.
Allmählich versagten meine Kräfte.
Die Augen fielen mir schon zu, als die Matrosen sich gegen 23 Uhr entfernt
hatten. Ich legte mich in das Kiefernwäldchen, das unmittelbar ans
Bauerngehöft grenzte, und fiel sofort in einen Halbschlaf. Verständlich,
wenn man bedenkt, daß ich seit Donnerstag, dem 22. März, bis
jetzt, Sonnabend nacht, kaum ein Auge zugetan hatte. Hinzu kam, daß
ich während dieser drei Tage und Nächte ständig unter höchster
Anspannung aller meiner Sinne gelebt hatte. Auch jetzt fühlte ich
mich durchaus nicht sicher. Unentwegt kreiste durch mein Dahindämmern
der Gedanke: Sind die beiden echt, oder sind es Provokateure, die von den
Faschisten eigens auf Soldaten und Offiziere in den Transporten angesetzt
sind, um Gegner des Regimes und des Krieges aufzuspüren und auszuliefern?
In meinen nervösen Schlaf ertönte
der mit den Seeleuten vereinbarte Pfiff. Ich war sofort wach. Ein Blick
auf die Uhr: Es war 1.30 Uhr. Sonntag, der 25. März, war angebrochen.
Der Pfiff löste in mir neue Hoffnung,
aber auch unterschwellig Zweifel aus, als ich mich aus meinem Versteck
erhob. Im gleichen Augenblick, als ich die beiden Seeleute erblickte, sah
ich, daß das gesamte den Bauernhof umgebende Gelände von Bewaffneten
umstellt war. Der Ruf: «Hände hoch, oder du wirst erschossen!»
erscholl durchdringend, und plötzlich spürte ich die Mündung
einer Maschinenpistole in meinem Rücken.
Das Kiefernwäldchen lag auf einer kleinen
Anhöhe. Von dort konnte man die Straße, die nach Prenzlau führte,
überblicken. Man fesselte meine Hände auf dem Rücken und
stieß mich den Feldweg zur Landstraße hinunter. Dabei bedachte
mich ein grauhaariger Oberleutnant unentwegt mit einer Schimpfkanonade:
«So ein Lump! Wenn solche Verbrecher wie du nicht wären,
hätten wir längst den Krieg gewonnen!
Wer dich bloß zum Offizier gemacht hat,
du Bolschewisten-schwein!» Sein Vokabular, das sich über mich
ergoß, schien unerschöpflich.
Als ich den ersten Schock überwunden
hatte, nahm ich die Szene wahr, die sich um mich abspielte. Wie viele Soldaten!
Warum solch ein Aufgebot? Wahrscheinlich hatte man den Angaben Forsacks
und seines Komplicen keinen Glauben geschenkt, daß sich bei dem Gehöft
nur ein einzelner «Deserteur» aufhalte. Man vermutete offenbar
um den Offizier gleichgesinnte Soldaten. Das konnte ich später auch
aus den Fragen bei den ersten Vernehmungen schließen.
Grelles Scheinwerferlicht leuchtete auf,
es kam von einem Schützenpanzerwagen.
Für einen Augenblick konnte ich in die
Gesichter blicken. Aus ihnen schien Verwunderung zu sprechen, daß
sich ihnen ein Frontoffizier näherte. Während vorher noch ein
ziemliches Stimmengewirr zu vernehmen war - Forsack und sein Kumpan standen
mitten unter den Soldaten -, trat plötzlich Stille ein. Ich wurde
in einen PKW geschoben, und wenig später saß ich dem Leiter
der Gestapo in Pasewalk, Kriminalkommissar und SS-Hauptsturmführer
Essig, gegenüber. Er war auch bei meiner Festnahme dabeigewesen.
Schon bei der Vorbereitung meines Auftrages
war genau abgesprochen worden, wie ich mich im Falle einer Verhaftung zu
verhalten hätte. Jedes Mittel sei recht, hatten mir die Genossen erklärt,
wenn nur der Gegner damit getäuscht würde. Entscheidend sei,
daß er nichts erfahre, was er nicht wissen dürfe. «In
den Händen der Gestapo bist du
von aller Welt abgeschnitten. Warum vor diesen
Verbrechern den starken Mann spielen? Man muß sie täuschen,
sie hinhalten, um in einem geeigneten Augenblick zu versuchen, ihnen zu
entwischen.
Niemals sich aufgeben, solange man noch einen
Hauch von Atem in sich verspürt», hatte mich Oberst L. instruiert.
Ich war gefaßt, denn ich hatte mich
oft genug auch mit dieser Lage beschäftigt, die nunmehr eingetreten
war. Ich wußte von Anbeginn meiner freiwilligen Verpflichtung, daß
sie immer mit dem Risiko verbunden war, in die Fänge des Gegners zu
geraten und unter Umständen das Leben hinzugeben. Äußerlich
spielte ich den Zusammengebrochenen, während ich mich innerlich auf
meine Aussagen und mein weiteres Verhalten vorbereitete.
So redete ich dem Gestapochef ein, ich hätte
die Möglichkeit genutzt, der Gefangenschaft den Rücken zu kehren
und zu meiner Familie zu gelangen.
Auf die sich daran anschließende Frage,
daß es dann doch wohl logisch gewesen wäre, mich nach dem Absprung
sofort bei der nächsten Behörde zu melden, reagierte ich mit
dem Argument, davor hätte ich Bedenken gehabt, denn mit dem Absprung
sei doch der Tatbestand des Hochverrats erfüllt. Ich hätte Angst
gehabt, in die Mühle der Polizei und Justiz zu gelangen. Mein einziges
Ziel sei gewesen, mir mit Hilfe der Seeleute Zivilkleidung zu verschaffen
und mich dann nach meinem Heimatort Gronau durchzuschlagen.
Dabei kam mir zupaß, daß Forsack
bei einer Gegenüberstellung bestätigte, ich hätte ihn und
seinen Kumpel gebeten, mich mit Seemannskleidung auszustatten, um mich
der Uniform zu entledigen.
Nachdem ich fünf Tage im Polizeigefängnis
Pasewalk eingesessen hatte, wurde ich am Freitag, dem 30. März 1945,
in Begleitung von Essig und zwei SS-Bewachern über Prenzlau zu einem
Rittergut gefahren, wo sich der Höhere SS-Stab «Weichselkopf»
befand. Ab Prenzlau wurden mir die Augen verbunden. Der Sitz des Stabes
- auch der Weg dorthin - sollte vor mir geheimgehalten werden. Erst als
das Fahrzeug im Innenhof hielt, würde die Binde entfernt.
Ich wurde SS-Hauptsturmführer Schneider
übergeben.
[Die genannten Namen Forsack, Essig, Schneider
usw. sind mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit korrekt. Rudi
hatte sich nach dem Krieg Notizen gemacht, zudem akribisch recherchiert
und ließ lieber mal einen Namen weg als etwas Falsches behaupten
zu wollen. Ein wenig konnte auch ich ihm bei der recherche helfen.]
Dieser SS-Offizier gab mir mit näselnder
Stimme zu verstehen, daß er nicht nur Offizter der Waffen-SS sei,
sondern auch den juristischen Grad eines Gerichtsassessors besitze.
Im Park waren mehrere Unterkünfte für
Soldaten errichtet. Zu einer dieser Baracken führte er mich und wies
mir meinen Aufenthalts- und Schlafplatz zu, ein Feldbett im hinteren Teil
eines großen Raumes. Dabei ließ er mit betonter Nonchalance
die Bemerkung fallen: «Sollten Sie einen Fluchtversuch wagen, sind
Ihnen die blauen Bohnen der eigens für Sie eingesetzten Wache sicher.
Also bleiben Sie schön brav.»
Damit stolzierte er in siegesbewußter,
kerzengerader Haltung zur Barackentür.
Am nächsten Tag, es war Ostersonnabend,
wurde ich zum Verhör geholt. Doch der SS-Mann stellte seine Fragen
nicht systematisch, er fragte durcheinander - vielleicht in der Hoffnung,
mich mit dieser Methode verwirren zu können und widersprüchliche
Aussagen zu erreichen. Als er nach geraumer Zeit feststellte, daß
auch seine Fangfragen kein Ergebnis brachten, schloß er die Vernehmung
mit den Worten: «Und funken können Sie? - Haben Sie mit dem
mitgeführten Gerät bereits gearbeitet?»
Als ich beides bejahte, sagte er bestimmt:
«Dann werden Sie für uns schon bald den Funkverkehr aufnehmen.
Wir werden den Feind täuschen. Wenn Ihnen das gelingt, können
Sie einen Teil Ihrer Schuld wieder gutmachen und Ihren Kopf retten. Aber
sollten Sie auch nur den geringsten Versuch unt'ernehmen, uns zu betrügen,
dann ist es aus mit Ihnen. Erfahrene Funker werden Sie streng überwachen.
Ist das absolut klar?»
Nach der knappen militärischen Bestätigung
«Jawohl, Herr Hauptsturmführer!» entließ er mich,
selbstzufrieden lächelnd.
Um das angekündigte Täuschungsmanöver
auszuführen, wurde ich - über einige Zwischenstationen - in die
Dienststelle der Gestapo nach Swinemünde gebracht. Sie war in der
ehemaligen Pension «Prinz Eitel Friedrich», unmittelbar am
Kurpark, untergebracht.
Es muß der 19. oder 20. April 1945
gewesen sein, als das Funkspiel begann.
Zunächst mußte ich einen Text
der Heeresgruppe verschlüsseln, der falsche Angaben über Truppenbewegungen,
vor allem über Schiffe, enthielt. Die Verschlüsselung wurde von
einem Funkspezialisten, Kriminalsekretär Krüger, überprüft.
Er war eigens zu meiner Überwachung von der Ge-stapo-Hauptstelle Stettin
nach Swinemünde beordert worden.
Bevor das Funkspiel seinen Anfang nahm, forderte
mich Krüger auf, vor dem Leiter der Dienststelle, SS-Obersturmführer
Zielfeld, zu erscheinen. Zielfeld erhob sich und zog seinen Uniformrock
straff, als wir sein Zimmer betraten. Den Blick gesenkt, in der rechten
Hand mit einem Brieföffner klopfend, erklärte er mit scharfer
Stimme: «Die Aktion beginnt nun. Zu Ihrer Überwachung sind Kriminalsekretär
Krüger und ein Funkoffizier eingesetzt. Ich weise Sie nachdrücklich
darauf hin, daß jeder Versuch, die Gegenseite wissen zu lassen, unter
welchen Bedingungen Sie arbeiten, Ihr Ende
bedeutet. Aber nicht durch Erschießen,
sondern wie das bei Verrätern üblich ist. Im Kurpark sind noch
genügend Bäume frei. Verstanden?»
Das darauf erschallende «Jawohl, Herr
Obersturmführer» hatte Krüger so laut ausgerufen, daß
meine Antwort übertönt wurde.
Nach diesem Befehlsempfang konnten wir abtreten.
Würde es mir gelingen, ohne daß
meinen Bewachern etwas auffiel, die Gestapo zu täuschen? Ich mußte
die Zentrale beim ersten Funksprüch unzweideutig wissen lassen, daß
ich unter Druck arbeitete, in die Hände der Gestapo gefallen war.
Sollte dies mißlingen, so würden die gefälschten militärischen
Nachrichten als echte Informationen aufgenommen und vielleicht bei der
Roten Armee zu Fehlentscheidungen führen. Das könnte Verluste
an Menschen und Material bedeuten, Auf das Ergebnis komme es an. Hier lag
meine Entscheidung, Ich hatte also so zu handeln, daß die Zentrale
von Anbeginn wußte, alle von mir einlaufenden Meldungen waren Desinformationen
des Gegners.
Zur Verschlüsselung diente ein «Evangelisches
Gesangbuch für den Feldgottesdienst».
Bei der Vorbereitung meines Einsatzes hatte
ich mit den Genossen vereinbart, daß ich bei normalem Funkverkehr
beispielsweise auf Seite 15 des Gesangbuches mit der Verschlüsselung
beginnen würde. Sollte ich dagegen unter Druck arbeiten müssen,
würde das Verschlüsseln zum Beispiel ab Seite 30 seinen Anfang
nehmen.
Daß ich mit der Verschlüsselung
an jener Stelle im Gesangbuch eingesetzt hatte, die wir für den Ernstfall
vorgesehen hatten, davon konnte Krüger nichts ahnen, als er die erste
chiffrierte Meldung überprüfte. Für ihn war alles in Ordnung.
Ich wurde von Krüger und Notzke - so
hieß mein anderer Bewacher - an einem der beiden genannten Apriltage
in ein nahegelegenes Stabsgebäude der Kriegsmarine gebracht. In einem
größeren Raum, der wahrscheinlich zur Funkstelle des Marinestabes
gehörte, war an der Fensterfront auf einem langen Tisch mein Funkgerät
aufgebaut. Beim Eintritt in den Raum wurden Krüger und Notzke von
einem Leutnant zur See - er hieß ebenfalls Krüger -, einem Funkoffizier,
begrüßt. Er war als weiterer Mann zur Überwachung meines
Funkverkehrs abkommandiert. Nachdem Notzke sich entfernt hatte, setzten
wir drei uns vor den Tisch, links von mir Marine-Krüger, rechts Gestapo-Krüger.
Wir stülpten die Kopfhörer auf. Ich suchte die festgelegte Wellenfrequenz
und stimmte auf das mir bekannte Morsezeiehen ab: Dann drückte ich
zu der von der Zentrale vorgegebenen
Uhrzeit die Taste. Ich rief die Gegenstelle
mit dem vereinbarten Rufzeichen dreimal an: «Anton! Anton! Anton!»
und schaltete danach mit «Bitte kommen!» auf Empfang.
Mich erfaßte eine ungeheure Spannung,
und ich fühlte, wie mir das Blut zu Kopfe stieg. Als mein «Rufname»
ertönte, ging die Aufregung schon in eine freudige Erwartung über.
Dann kam die Anfrage: «Wie hören Sie mich? Bitte kommen!»
In der Funksprache gibt es die Lautstärkenstaffelung
von 1 bis 5 bal. Um festzustellen, wie man sich hört, beginnt der
Funkverkehr immer mit der wechselseitigen Anfrage nach der Lautstärke.
Unter normalen Umständen hätte
ich geantwortet, und zwar nur ein einziges Mal: «Ich höre Sie
mit 3.»
Da ich aber unter dem Druck des Gegners stand,
setzte ich das Erkennungszeichen ab, das ich mit den Genossen für
diesen Fall abgesprochen hatte: Zweimal gab ich durch: «Ich höre
Sie mit 5.»
Die Gegenstelle quittierte: «Verstanden.
Wir hören Sie auch mit 5. Was haben Sie zu melden?»
Als zweites Erkennungszeichen, daß ich
mich in Haft befand, funkte ich nach den Abmachungen nun die Anrede: «An
Chef», die normal gelautet hätte: «An Zentrale».
Dann erfolgte die bereits genannte Desinformation der Heeresgruppe. Hierbei
wurde für die Gegenstelle das dritte Erkennungszeichen sichtbar, nämlich
daß die Verschlüsselung nicht wie bei unbelastetem Funkverkehr
auf Seite x (zum Beispiel Seite 15), sondern bei Arbeit unter Druck bei
Seite y (Seite 30) begann. Als viertes Erkennungszeichen war vereinbart,
die abgesetzte Meldung mit einem anderen Decknamen zu unterzeichnen (zum
Beispiel normal: Peter; unter Druck: Walter).
Nun erwartete ich mit großer innerer
Erregung die Antwort. Ich spürte den Druck der Hörmuscheln so
fest auf meinen Ohren, als preßte sie mir jemand an. Dann nahm ich
auf: «Wir beglückwünschen Sie zur erfolgreichen Landung
- wir bleiben weiter auf Empfang.»
Normalerweise war dieser Spruch nicht vorgesehen.
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Die Zentrale hatte erkannt, daß ich
mich in Haft befand und alle Meldungen Lug und Trug waren. In dem Gruß
kam aber auch, nur für mich zu deuten, zum Ausdruck: «Wir bleiben
so lange auf Empfang, bis Ihnen die Flucht glückt. - Alles Gute!»
Als ich den Kopfhörer abnahm, stand
Gestapo-Krüger mit den Worten auf: «Ich muß jetzt mein
Morgenei legen!»
Der Marineoffizier war nun einige Zeit mit
mir allein und meinte: «Hörten Sie die Gegenstelle tatsächlich
mit 5 bal? Ich höchstens mit 4. Aber das ist wohl bei jedem individuell
etwas verschieden.»
«Da haben Sie nicht unrecht - genaugenommen
habe ich die Lautstärke mit 4 bis 5 vernommen. Da es jedoch keine
Zwischenwerte in der Durchsage gibt, gab ich 5 an», spann ich den
Faden weiter.
«Ist ja nicht von Bedeutung, und so
ein Berufsnarr der Funkerei bin ich nun auch wieder nicht, daß ich
auf Kleinigkeiten herumreite.»
Ehe ich noch etwas darauf antworten konnte,
erschien Gestapo-Krüger wieder auf der Bildfläche und gab uns
Bescheid: «Notzke kommt gleich, dann können wir gehen!»
Damit hatte eine spannungsgeladene Stunde
ihr Ende gefunden.
Die Zentrale war über mein Schicksal
im wesentlichen unterrichtet, und dem faschistischen Gegner war es mißlungen,
aus mir Kapital zu schlagen.
Dieser Tag gab mir Auftrieb und stärkte
meinen Lebensmut.
Die Gestapo verschleppte Rudolf Fey noch in den
letzten Kriegstagen auf ein Schiff. Dort gelang es ihm gemeinsam mit einigen
anderen, den Kapitän zu entwaffnen und die Gestapo auszuschalten.
Auf nicht ungefährlichem Wege kehrte er Ende Mai 1945 zu seiner Familie
nach Gronau zurück und arbeitete aktiv in der Kommunistischen Partei
Deutschlands mit.
Fey,
Rudolf, 17.5.1914 (Bochum) – 20.7.1999
Sohn einer Kaufmannsfamilie, Abitur, 1933
NSDAP, Wehrmacht, Oltn, Sept. 1941 sowj. Kgf.,
Antifaschulen in Jelabuga, Oranki u. Krasnogorsk,
1943 Mitbegr. d. BDO, Mitarbeit im
NKFD, Aufklärer d. Roten Armee, Fallschirmabsprung
im Hinterland d. dt. Front zwecks
Herstellung von Kontakten mit antifasch.
Widerstandsgruppen, März 1945 Verhaftung durch
Gestapo, Mai 1945 Flucht aus Militärgefängnis
Swinemünde, Aug. 1945 KPD, 1969 DKP,
Funktionen im PV des KPD bzw. DKP-Bundesvorstand.
So steht es in einer Kurzbiographie im
Internet. Daß er immer bei der VVN mit dabei war, sie in der DDR
mit -wiedergründete, bei Forschungen zum NKFD mitarbeitete, bei der
DRAFD, immer den 20. Juli ehrte und seine Hochachtung auch vor den konservativeren
Offizieren nie verleugnete, daß er erschrocken über Hakenkreuzschmierereien
in der DDR war, dementsprechend auch mal "ne dicke Lippe riskierte", in
Schulen auftrat und referierte - es ist so viel mehr zu erzählen ...
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