Der Absprung

Die Überschrift in ihrem Doppelsinn deutet auf die Notwendigkeit hin, gelegentlich abzuspringen, die Seiten zu wechseln, etwas zu wagen, neue Perspektiven ins Auge zu fassen.

Konkret geht es um meinen Freund Rudi Fey, der sich traute und dem ich seit Beginn der 70er Jahre, als wir uns kennenlernten, über seinen Tod 1999 hinaus verbunden bin. Hier ein Kapitel seines Lebens (Auszug aus seiner Autobiographie, ergänzt und u.a.[so]bearbeitet von A.H.)

Es gab auch britische, polnische, französische und sowjetische Helden.
  

Absprung in der Uckermark

Vor ein paar Jahren fuhren meine Frau und ich mit dem PKW an die Ostsee nach Binz, um dort unseren Urlaub zu verbringen. Kurz vor Anklam legten wir einen kleinen Umweg ein. Ich wollte endlich einmal die Gegend wiedersehen, in der ich am 22. März 1945 illegal mit dem Fallschirm abgesprungen war.

Zunächst begaben wir uns zum Bahnhof Ducherow. Unverändert zeigte er sein Backsteingesicht. Nur herrschte heute hier völlige Ruhe, im Gegensatz zu jenen Märztagen, als es auf der Station von Soldaten der faschistischen deutschen Wehrmacht wimmelte und die SS scharfe Kontrollen der Ausweise und Fahrdokumente vornahm.
Danach fuhren wir weiter zur Gemeinde Leopoldshagen. Auf dem holprigen Kopfsteinpflaster war keine höhere Geschwindigkeit als 30 Kilometer in der Stunde erlaubt.
[Rudi als Autonarr muß das ein Graus gewesen sein. So  kann man auch Kritik an den herrschenden Verhältnissen üben ...]

Angenehm entschädigt wurde man für die Rumpelei allerdings durch den Anblick der hohen Pappeln und anderen Bäume, die die alte Landstraße links und rechts säumten.
Mit jedem Kilometer, den wir uns Leopoldshagen näherten, wurde die Erinnerung in mir stärker lebendig. Damals im März 1945 waren alle meine Sinne derart angespannt, daß sich jede Einzelheit des Weges fest in meinem Gedächtnis eingegraben hat. .
 

Ungefähr 800 Meter vom Ausgang des Ortes entfernt, entdeckte ich dann meinen Absprungplatz. Auch hier war die Natur unverändert geblieben. Die Ueckermünder Heide mit ihrem hohen Nadel- und Laubwald stand in prächtigem Grün. Auch der Graben, in dem ich meinen Fallschirm verborgen hatte, war noch vorhanden.

Ich war am 3. September 1941 in sowjetische Gefangenschaft geraten. Dort schloß ich mich relativ schnell der antifaschistischen Bewegung an, da ich mich bereits seit Jahren in einigen Fragen im krassen Gegensatz zu den Nazis befand. Insbesondere verabscheute ich die unmenschliche Rassenpolitik. Je mehr ich mich in der Sowjetunion mit dem Marxismus-Leninismus vertraut machte, um so erbitterter wurde ich, daß auch ich — trotz mancher Vorbehalte zwar — den braunen Rattenfängern eine Zeitlang gefolgt war. Jetzt wollte ich versuchen, wenigstens etwas wiedergutzumachen. Deshalb meldete ich mich vor Abschluß des Lehrgangs auf der Antifa-Schule in Krasnogorsk Ende April 1944 zum illegalen Einsatz. Ich fühle noch heute den Stolz, der mich erfüllte, als mir mitgeteilt wurde, mein Antrag sei positiv entschieden worden.
[Man beachte den Zeitpunkt: der Ausgang des Kriegs war absehbar.]

Gemeinsam mit anderen Freiwilligen wurde ich auf die illegale Arbeit vorbereitet. Man machte uns mit den Regeln der Konspiration vertraut, damit wir uns einigermaßen sicher unter dem Gegner bewegen konnten. Auch das Funken wurde intensiv gelehrt und geübt, also das Geben und Hören, das Ver- und Entschlüsseln von Funksprüchen. Mit der Funktechnik beschäftigten wir uns ebenfalls eingehend. Wir mußten ja in der Lage sein, Störungen rechtzeitig zu bemerken und selbständig zu beheben.
Das Funken fiel mir nicht schwer, denn ich war in der faschistischen Wehrmacht Beobachter in einer Heeresaufklä-rungsstaffel gewesen, hatte also Funken und Funkgerätekunde hinreichend kennengelernt. Auch Topographie war mir nichts Neues. Bald war der Zeitpunkt herangerückt, da ich mit den sowjetischen Genossen Einsatzort und -aufgabe konkret absprechen konnte.
Wir entschieden uns für das Gebiet Usedom/Wollin (heute Wolin). Im damaligen Swinemünde (Swinoujscie) lebten meine Schwiegereltern. Mein Schwiegervater, Oberst a. D. Axel Freiherr von Wachtmeister, gehörte zwar der kaisertreuen preußischen Adelskaste an, aber mir war bekannt, daß er aus seiner konservativ geprägten humanistischen Einstellung heraus ein Gegner des Hitlerregimes geworden war. Zudem verfügten meine Schwiegereltern über weitreichende Verbindungen zu einflußreichen diplomatischen und militärischen Kreisen. Dadurch konnte ich möglicherweise Informationen erhalten, die für die Rote Armee wichtig waren. Nicht zuletzt kam Swinemünde wie den Inseln insgesamt bei der damaligen Frontlage strategische Bedeutung zu. All diese Tatsachen sprachen also für die Wahl gerade dieses Einsatzortes.
[Das benachbarte Peenemünde war aus bekannten Gründen auch nicht uninteressant für die Rote Armee - obwohl von Brauns Truppe längst abgezogen war.]

Meine Aufgabe bestand zum einen darin, mit.Hilfe meines Schwiegervaters der Zentrale genaue Angaben über die militärische Situation auf Usedom und Wollin per Funk zu übermitteln, und zum andern, einflußreiche Offiziere und andere Persönlichkeiten zum Widerstand gegen die Hitlerdiktatur zu gewinnen. Jeder Tag, um den der Krieg verkürzt werden konnte, ersparte den Völkern, darunter auch unserem deutschen Volk, weitere sinnlose Opfer an Menschen und materiellen und kulturellen Gütern.
Zu meiner Vorbereitung gehörte die Ausarbeitung meiner. Legende. Es leuchtet ein, daß ich nicht unter meinem wirklichen Namen in Swinemünde erscheinen konnte. Ich mußte also eine andere Identität annehmen. Eine derartige Legende muß der Aufgabe und den Bedingungen angepaßt sein, unter denen der Kundschafter handeln soll.
Für meinen Auftrag war es in der damaligen Kriegszeit, die
das gesamte Leben der Menschen beherrschte, das günstigste, als Offizier aufzutreten. Das stimmte zudem gut mit der Wirklichkeit überein. Ich war ja tatsächlich Wehrmachtoffizier gewesen. Ich wählte den Namen meines Freundes Hermann Janzik, eines Fliegeroffiziers, der von einem Flug gegen England nicht zurückgekehrt und seither verschollen war. Seinen Lebenslauf kannte ich sehr genau.
Nach meinem Dienstalter müßte ich Hauptmann sein und bestimmte Orden besitzen. Ein Fliegeroffizier, dazu ein Hauptmann, der im fünften Kriegsjahr noch nicht das EK 1.. Klasse besaß, hätte im Nazireich Verwunderung hervorgerufen, insbesondere bei Soldaten und Offizieren. Ein Kundschafter jedoch soll keinerlei Aufmerksamkeit erregen, kein besonderes Interesse wecken, alles muß ganz normal erscheinen. Also hatte ich wohl oder übel meine Uniform auch mit einem Eisernen Kreuz zu «dekorieren». , Für die Glaubwürdigkeit einer Legende gilt der Grundsatz: Je mehr man an Lebensfakten auf- und nachweisen kann, um so sicherer. Sie muß einer Überprüfung standhalten, darf keinen Zweifel an der angenommenen Identität aufkommen lassen, darf ihren Träger nicht enttarnen.
Meine Schwiegereltern besaßen einen breiten Bekanntenkreis unter Offizieren, Adligen und Bourgeois. Es würde daher keine Verwunderung bei Außenstehenden hervorrufen, wenn in ihrem Hause ein Fliegeroffizier auftauchte. Im Gegenteil, der Besuch fügte sich als alltägliche Sache in ihren Lebensrhythmus ein.
Theoretisch war damit alles gut durchdacht. Doch wie würde die Wirklichkeit aussehen? Lebten meinen Schwiegereltern überhaupt noch? Waren sie vielleicht evakuiert worden? Nun, wer nicht wagt, der nicht gewinnt! [typisch Rudi]

Nicht weniger wichtig als die passende Legende war die Auswahl meines Absprungplatzes. Man zeigte mir Karten,
auf denen die Inseln Usedom und Wollin, das Oderhaff mit der Peene und ein größerer Teil des südostwärts von den genannten Gewässern liegenden Festlandes eingezeichnet waren. Ich benötigte zum Abspringen eine möglichst verkehrsarme, gut gedeckte Gegend. Andererseits durfte es bis zu einer Verkehrsgelegenheit nicht allzu weit sein, da mein Koffer mit dem Funkgerät ziemlich schwer sein würde und ich auch sonst als einsam wandernder Offizier Aufsehen erregen könnte.

Ich entschloß mich, 800 Meter ostwärts der Gemeinde Leopoldshagen zu landen. Der Landeplatz - eine freie Fläche von etwa einem Quadratkilometer Ausdehnung - war in ein dichtes Waldgebiet eingebettet. In der Nähe verlief die Landstraße Ueckermünde - Mönkebude - Leopoldshagen - Du-cherow.
Beim Absprung konnte ich die Straße leicht auf möglichen Verkehr überblicken und später auf kürzestem Wege den Bahnhof Ducherow erreichen. Von diesem Ort bestand eine Eisenbahnverbindung nach Swinemünde.
Mitte März 1944 teilte mir Oberst L., mein Ausbilder und Betreuer, mit, daß in den nächsten Tagen mit meinem Abflug von Moskau zu rechnen sei.
Wir landeten auf einem Feldflugplatz in der Nähe einer polnischen Kleinstadt, die erst vor wenigen Tagen durch die Rote Armee von faschistischen Truppen befreit worden war. Drei Tage blieben wir in dem Städtchen, in einem kleinen Hotel; dann kam der Einsatzbefehl. Bevor wir zum Flugplatz abgeholt wurden, nahm Oberst L. von mir Abschied. Da wurde mir erst richtig bewußt, daß ich in wenigen Stunden ganz auf mich allein gestellt sein würde. Mit der Trennung von Genossen L. und Aljoscha, dem Dolmetscher, würden buchstäblich die letzten Brücken hinter mir abgebrochen sein.
["Genosse L." - nur die Initialen zu nennen war dann Prinzip bei rudi, wenn er nicht wußte, ob die betreffende Person evtl. noch lebte und mit einer Veröffentlichung nicht einverstanden war.]

Würde ich diese mir lieb gewordenen Genossen jemals wiedersehen? Genösse L. wünschte mir eine gute Landung, eine glückliche Ankunft am Einsatzort und ein erfolgreiches Zusammentreffen mit meinen Schwiegereltern. Falls ich jedoch Pech hätte und in die Klauen des Gegners fiele, sollte ich von jedem Mittel der Täuschung Gebrauch machen.
Auf dem Feldflugplatz stand eine amerikanische «Boston» bereit zum Start. Noch einmal umarmte mich mein Vorgesetzter, und ich bestieg den Rumpf des Flugzeuges. In der Kabine nahmen mich ein Hauptmann und ein Sergeant in Empfang.

Die Motoren liefen an - noch ein letztes Winken durch das Bordfenster, und dann ging es los. Die Maschine hob gut ab und nahm Kurs auf Westen. Die Nacht war klar; man hatte gute Sicht. Das brachte Vor- und Nachteile. Bei klarer Sicht konnte man auch vom Gegner gut erkannt werden. Andererseits mußte man zur Orientierung klare Sicht und zum punktuellen Absprung unbedingt über einen klaren Blick zum Boden verfügen. Die Vorteile überwogen in diesem Falle.
Nach ungefähr einer Flugstunde war es soweit. Der Hauptmann gab mir das Zeichen zum Fertigmachen. Beide, Hauptmann und Sergeant, halfen mir, den Fallschirm anzulegen: vor die Brust kam der Wehrmachtrucksack, und zwischen die Beine wurde die starke Leine eingehängt, an der der Lederkoffer befestigt war. Das Finnmesser steckte im rechten Stiefelschaft. Der Sergeant öffnete die Bodenluke, und die Erde wurde sichtbar. Wir blickten alle drei angestrengt auf die Signalanlage an der rechten Bordwand, die die Kabine von der Flugzeugkanzel trennte. Wenn die erste rote Lampe im Intervall aufblinkte, hieß das: Einsteigen in den Schacht. Der Hauptmann und der Sergeant drückten mich noch einmal, der Hauptmann gab mir nach alter russischer Sitte einen Bruderkuß auf beide Wangen. Er schaute mir ernst in die Augen, mit den Händen meine Schulter haltend. Sein Blick sagte alles: Genosse, du wirst auf deinen schwersten Gang geschickt!
 

Dann wurde der Koffer durch die Luke geschoben, und schon verspürte ich den starken Sog des Flugwindes. Als ich die Beine durch die Luke steckte, glaubte ich, sie würden mir abgerissen. Ich sah noch einmal den Höhenmesser - er zeigte 800 Meter, dann flackerten zwei rote Lampen im Intervall auf: Das war das Kommando zum Absprung. Der Hauptmann und der Sergeant drückten mich mit aller Kraft durch die Luke. Ein nicht leichtes Unterfangen, denn beides war sehr sperrig: der Fallschirm hinten und der Rucksack vorn -der Brustkorb wurde mir schier eingedrückt.
Ich schoß hinab. Automatisch zählte ich: einundzwanzig -zweiundzwanzig - dreiundzwanzig und zog dann die Fallschirmleine. Ein mächtiges Rauschen über mir, ein plötzlicher starker Schlag in beiden Achselhöhlen - ich hing am Fallschirm. Unter mir sah ich, schemenhaft vom Mondlicht beleuchtet, die Konturen meines Landungsgebietes, wie auf der Karte ausgemacht. Blitzartig, nur für Sekundenbruchteile, sprach mein angespanntes Gehirn lautlos die Worte: Das haben die Genossen der «Boston» ausgezeichnet hingekriegt!
Nun mußte ich schon an den Leinen ziehen, um nicht zu sehr abzudriften, denn rechts vor mir erblickte ich das Haff. Dann hämmerte es in mir: Was ist, wenn man das Flugzeug und deinen Absprung bemerkt hat? Unwillkürlich faßte ich kurz nach meiner Pistolentasche - doch immer näher kam der Boden, und ich war gezwungen, mich auf die Landung zu konzentrieren. Du mußt gut landen! befahl ich mir selbst, darfst dir nicht den Fuß verstauchen. Ich zog wieder an den Leinen, um den Fallschirm auf eine größere Lichtung zu bringen.
 

Nun ging alles rasend schnell. Der Koffer plumpste auf; ich zog die Knie an und stampfte auf die Erde. Zum Glück
- der damalige Landeplatz hat sich seither kaum verändert - war der Boden weich. Der Fallschirm, der vor mir lag und durch einen leichten Windstoß wieder kurz aufgebläht wurde, riß mich nach vorn. Ich griff in meinen rechten Stiefelschaft, um das scharfe Finnmesser zu fassen. Doch es war nicht mehr da, also beim Absprung verlorengegangen. Nun konnte ich die Seile des Fallschirms nicht kappen. Sofort warf ich den Rucksack ab und löste danach ebenso schnell die Fallschirmgurte vom Körper. Das erschien mir in diesem Augenblick eine zeitraubende, langwierige Prozedur, wenngleich es höchstens eine Minute in Anspruch nahm.
Ich war genau 22 Uhr MEZ ungefähr einen Kilometer vom Westausgang Leopoldshagens, hart an der Landstraße nach Mönkebude, gelandet. Der Absprungplatz war also richtig ausgewählt worden. Die gründliche Vorbereitung hatte sich gelohnt.


[google earth]
 

Während der Landung hatte ich aufmerksam meine Umgebung beobachtet. So hatte ich sofort die Scheinwerfer eines Kraftfahrzeuges in der Ferne bemerkt. Deshalb raffte ich in größter Eile meinen Fallschirm zusammen, der sich bei jedem Windstoß erneut aufblähte und leicht zum Verräter für mich werden konnte. .Es wurde auch höchste Zeit. Als ich die leuchtenden Seidenbahnen in das Dunkel des Waldes^ gebracht hatte, war das Fahrzeug schon heran.
Ich legte meinen Rucksack auf das Fallschirmbündel, um zunächst meinen Landeplatz aufzuklären und zu sichern. In dem angrenzenden Wald bereitete ich mir ein Versteck vor, das mich vor unliebsamer Entdeckung schützte. Meinen Fallschirm, den ich fest zusammengeschnürt hatte, warf ich in den Wassergraben, der Wald und Landeplatz trennte, und schüttete Erde und Laub darauf. Ich hätte ihn eigentlich tief vergraben müssen, doch ich hatte nicht nur das Finnmesser, sondern auch den Spaten, der am Rucksack befestigt gewesen war, verloren.

Nun machte ich mich daran, Koffer und Rucksack umzupacken. Meine Zivilausstattung sowie einige überflüssige Konserven - alles «Made in Germany» - verstaute ich in den Rucksack, aus dem ich zuvor meine Offiziersmütze geholt hatte. Beim Absprung trug ich eine Fliegerhaube, ähnlich jenen Hauben, die man in den dreißiger Jahren und auch noch nach 1945 zum Motorradfahren benutzte. Auch diese Haube verscharrte ich etwas später im Walde.
Mein Lederkoffer, der seiner Größe nach dem Gepäck eines Hauptmanns angepaßt erschien und somit keine Aufmerksamkeit erregte, war jedoch ungewöhnlich schwer. Sobald ihn ein Fremder in die Hand nahm, mußte das Gewicht Erstaunen hervorrufen. Außer einem Oberhemd, einem Paar Socken, Unterwäsche und dem üblichen Kulturbeutel waren darin ja mehrere Trockenbatterien, ein Transformator und ein Funkgerät untergebracht. Alles in allem, so schätze ich, wog der schöne Lederkoffer einen halben Zentner. 

Und dieses Übergewicht war ihm auch beim Absprung nicht gut bekommen. Zwischen den beiden Schlössern war die Versteifung der Deckelleiste gebrochen und bog sich beim Aufheben so wie eine aufgeplatzte Hosennaht nach außen. Zum Glück verfügte ich noch über einen Lederriemen, um damit den Koffer an der brüchigen Stelle zusammenhalten zu können.
Den Rucksack versenkte ich in einem größeren Loch, das ich am Fuße eines dickstämmigen Baumes entdeckt hatte, stopfte es gut mit Laub zu und prägte mir die Stelle ein.
Meine Nerven waren allmählich in eine starke Spannung geraten, zumal der Verlust des Finnmessers, aber besonders des Feldspatens mich zusätzlich belasteten. Es beunruhigte mich stark, daß ich den Fallschirm nur provisorisch verbergen konnte. Doch ich zwang mich, der Aufregung Herr zu werden.
Inzwischen zeigte die Uhr 11 - 23.00 Uhr an. Bis zum anbrechenden Morgen konnte ich nichts unternehmen. 

Dorfbewohner gehen frühzeitig zu Bett. Außerdem, welchen Zweck hätte es gehabt, in der Nacht bei jemandem anzuklopfen, da doch mit Bestimmtheit anzunehmen war, daß in diesem Dorf keine Verkehrsmöglichkeit nach Ducherow mehr gegeb war. Ich mußte den Tagesbeginn abwarten.

Allmählich wurde ich wieder ruhiger. Die Stille der Natur tat ein übriges. Mich verlangte nach einer Zigarette. Unter Beachtung aller Vorsichtsmaßregeln - weder der Feuerschein des Streichholzes noch die Glut der brennenden Zigarette durften zu sehen sein - steckte ich eine an. Ich legte mich dabei flach auf den nadelgepolsterten Waldboden. Nun konzentrierte ich meine Gedanken auf die weiteren Schritte.

Außer dem Fahrzeug bei meiner Landung hatte sich nichts mehr auf der Straße bewegt. Alles um mich herum atmete Stille. Es schien, als sei der Wald mit den Dorfbewohnern eingeschlafen, und nur der Mond, dieser kalt dreinschauende Geselle, leistete mir Gesellschaft. Mit seinem, wenn auch matten und milchigen Schein beleuchtete er die Straße Mönkebude - Leopoldshagen.
Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Erst gegen 4.30 Uhr bemerkte ich eine Frau, die auf der Landstraße nach Leopoldshagen ging. Als drei weitere Frauen vorbeikamen, trat ich unbemerkt aus dem Wald und folgte ihnen.
Nach und nach holte ich die Frauen ein. Ich sprach sie an und fragte, wie man von hier nach Ducherow käme und wann ein Zug von dort nach Stralsund fahre. Sie sagten, daß sie ebenfalls nach Ducherow müßten, um den Frühzug nach Swi-nemünde zu erreichen. An eine Fahrgelegenheit sei aber nicht zu denken, sie gingen zu Fuß nach Ducherow. Für mich war ein Fußmarsch von etwa acht Kilometern mit dem gefährlichen Koffer ausgeschlossen. Ich mußte jemanden auftreiben, der mich zum Bahnhof brachte.
Kurz entschlossen klopfte ich in Leopoldshagen beim ersten besten Haus an, das einen Lichtschein zeigte. Vorhang und Gardine wurden beiseite geschoben, und ein hageres, bebrilltes Gesicht schaute mich für einen Augenblick erstaunt an. Dann wurde der Fensterriegel von innen hochgehoben. Der Mann - ein Schneider, wie ich feststellte - redete mich mit unverkennbar bitterem Unterton in der Stimme an: «Na, Herr Hauptmann, ist der Krieg nun bald zu Ende?»
«Schön wär's», antwortete ich und erkundigte mich nach einer Fahrmöglichkeit.
«Der einzige, der noch Pferd und Wagen besitzt, ist der Ortsgruppenleiter und Ortsbauernführer. Sein Hof liegt neben der Post. Da müßten Sie Ihr Glück versuchen, alles Gute!» Damit ging das Fenster wieder zu.

Der Hinweis des Schneiders stimmte mich hoffnungsvoll. Ein Bauer, der in seiner Person zwei Funktionen der Nazipartei vereinigte, würde schon geneigt sein, einem Wehrmachtoffizier zu helfen.
So war es tatsächlich. Als ich mit einem kräftigen «Heil Hitler» die Bauernstube betrat, erhob sich der Hausherr von seinem Stuhl - er saß mit seiner Frau beim Frühstück - und fragte: «Womit, Herr Hauptmann, kann ich dienen?»
«Herr Beese», ich redete ihn mit seinem Familiennamen an, meine Vorstellung absichtlich umgehend, «der Schneider am Eingang des Dorfes hat mich an Sie verwiesen, weil Sie vielleicht in der Lage sind, mich mit dem Pferdegespann zum Bahnhof zu bringen.» Ich fügte hinzu, es handle sich um einen wichtigen Dienstauftrag.
Ohne mich zu fragen, woher ich zu so früher Stunde gekommen sei, lud der Bauer mich freundlich ein, mit seiner Frau und ihm zu frühstücken. Die Hausfrau hatte indessen schon einen dritten Stuhl an den Tisch geschoben und bat mich, Platz zu nehmen.
«Da hat man Sie richtig eingewiesen», setzte der Bauer das Gespräch fort, und aus seinen Worten war Freude und Stolz zu spüren, daß er, der Amtsträger der NSDAP, in der Lage war, einem Offizier seines Führers behilflich sein zu können. Er rechne es sich als Ehre an, versicherte er mir ein ums andere mal, mich persönlich nach Ducherow zu fahren. Auch wenn er zehn Knechte besäße, er würde niemand auf den Bock lassen. Die unterwürfige Dienstbeflissenheit des Bauern ließ mich an den Hauptmann von Köpenick denken. Hier in Leopoldshagen schien ein Eiland dieses kleinbürgerlichen Autoritätsfimmels erhalten geblieben, denn Hauptleute, dachte ich, gibt's doch inzwischen wie Sand am Meer. Aber augenscheinlich zahlte sich dieser Dienstgrad noch immer
aus. Ich konnte mich glücklich schätzen, auf einen Übereifrigen gestoßen zu sein.
Nachdem wir gegessen hatten, spannte Beese an, und ich verstaute meinen Koffer auf dem Wagen, ehe der Hausherr dazu kam, ihn mir abzunehmen.
Das Gefährt, ein einfacher Flachwagen mit Kutschbock, wurde von einem kräftigen Braunen gezogen. Bald hatten wir die Hohe Heide, ein Waldgebiet zwischen Ducherow und Ueckermünde, erreicht. An der Gabelung der Landstraße erblickten wir plötzlich einen SS-Offizier, der hoch zu Roß vor einer Kolonne von KZ-Häftlingen ritt. Ein sich müde dahin-schleppender Elendszug von annähernd zweihundert menschlichen Wracks, in gestreifter Kluft mit einem farbigen Dreieck und einer Nummer auf der linken Brustseite, folgte dem SS-Führer in gebotenem Abstand. Bewacher umkreisten die erschöpften Menschen, brüllten und schlugen mit Peitschen auf sie ein.
Diese unerwartete Begegnung rief in mir Erschütterung und Haß hervor. Wut erfaßte mich über die eigene Ohnmacht, hier nicht eingreifen zu können.
Wir waren inzwischen auf unserem Gespann so nahe an die Kolonne herangerumpelt, daß der voranreitende Hauptsturmführer - so Wiesen ihn die Kragenspiegel aus - seinen Blick zu uns drehte und mich scharf musterte. Um Komplikationen zu vermeiden, hob ich meinen Arm zum «deutschen Gruß», den der SS-Mann auch unverzüglich erwiderte.

Als wir die Kolonne passiert hatten, die bald vom dichten Wald aufgenommen wurde, konnte ich mir die Bemerkung nicht verkneifen: «Diese Dinge sind vom Ausland registriert worden. Sollte der Krieg für uns schlecht ausgehen, erhalten wir nachträglich dafür die Quittung!»
Der Ortsbauernführer, der gleich mir schweigsam den Todeszug betrachtet hatte, verriet nun, daß auch er betroffen
war. «Mein Gott, wie kann derartiges geschehen? Bisher habe ich so etwas nicht für möglich gehalten und als Verleumdung abgetan. Wie kann man nur auf wehrlose Menschen dermaßen einschlagen? Wo mögen die armen Kerle nur herkommen? Hier hat es doch keine Lager gegeben.»
Damit war der Gesprächsfaden zwischen uns abgeschnitten, und jeder hing seinen Gedanken nach.
Kurz vor 9 Uhr waren wir an Ort und Stelle, Mein diensteifriger Begleiter wünschte mir alles Gute und vor allem glückliche Heimkehr zu meiner Familie. Auf seinem Gesicht las ich jetzt Nachdenklichkeit. Ich bedankte mich und hatte alle Mühe, ihn davon abzuhalten, mich zum Bahnsteig zu begleiten und mir den Koffer zu tragen.
 

Die Papiere aller Soldaten und Offiziere, unabhängig vom Dienstgrad, wurden durch einen Feldwebel der Waffen-SS kontrolliert. Würden meine dem Augenschein standhalten? -Nun, es ging ohne Beanstandung ab, obwohl die Dokumente eingehend geprüft wurden.
Auf dem kleinen Bahnhof wimmelte es nur so von Soldaten und Offizieren aller Waffengattungen. Es gab ein Geschiebe und Gehaste wie in einem aufgescheuchten Ameisenhaufen. Mich setzte die überaus große Anzahl von Offizieren in Erstaunen. Soweit ich mich erinnern kann, sah ich kaum Zivilisten.
Der Zug nach Swinemünde (Swinoujscie) hatte Verspätung. Zum Glück bekam ich einen Fensterplatz in einem Abteil der für Offiziere reservierten 1. Klasse. Den Gesprächen konnte ich entnehmen, daß alle nach Usedom kommandiert waren. Ich hörte aufmerksam zu, um die Situation zu erfassen.

Ich erfuhr, daß die Offiziere und Soldaten im Zug Truppenteilen angehörten, die von der Halbinsel Heia (Hei) kamen und bei Kolberg (Kotobrzeg) durch die Rote Armee geschlagen worden waren. Nun hatten sie in den Auffangstellen von Stettin (Szczecin) neue Einsatzbefehle erhalten.
Durch ständige Aufenthalte wegen des starken Gegenverkehrs kamen wir mit erheblicher Verspätung erst gegen 18 Uhr in Swinemünde an.
Als ich die Bahnhofshalle betrat, mehr gestoßen und geschoben als gehend, erblickte ich auf dem Vorplatz drei an langen Pfählen aufgehängte Menschen - ein Soldat, ein Zivilist, eine Frau - , jeder mit einem Pappschild auf der Brust: «Ich bin ein Deserteur» - «Ich bin ein Plünderer und Saboteur» - «Ich habe Rassenschande begangen».
Dieses Bild des Grauens traf mich so, als hätte mir einer einen Schlag ins Gesicht versetzt. 
Man muß sich vergegenwärtigen: Swinemünde war ein exklusives Seebad, bis Kriegsbeginn einer der Sommertreffpunkte der oberen Zehntausend. Noch im Mai 1940, als ich bei einem Kurzurlaub meine Schwiegereltern besucht hatte, war mir die Stadt mit ihren schönen Anlagen, dem herrlichen Kurpark und dem weißen Strand als Idylle erschienen. Und jetzt - ein Stück mittelalterlicher Richtstätte.
Bestürzt wandte ich mich ab. Genauso bestürzt war ich über den Menschenstrom, der - so schien es mir wenigstens - gleichgültig an den Gehängten vorbeiflutete.
Es versteht sich von selbst, daß hier weder ein Taxi noch, wie 1940, eine Pferdedroschke anzutreffen war. Doch mit dem schweren Koffer konnte ich unmöglich zu Fuß bis zur Wohnung meiner Schwiegereltern gehen. Das würde die Aufmerksamkeit von Passanten hervorgerufen haben. In der Gepäckaufbewahrung durfte ich meinen Koffer aus Sicherheitsgründen nicht abgeben. Was tun, sprach Zeus. 

Mir fiel diese Redewendung ein, die wir als Schüler oft gebraucht hatten. Während ich noch überlegte, wie ich wohl zur Kurparkstraße gelangen könnte, sah ich den alten Dienstmann Schröder, der mir bei meinem letzten Besuch das Gepäck zur Wohnung meiner Schwiegereltern gebracht hatte. «Dienstmänner» gab es früher auf allen Bahnhöfen der Reichsbahn. Sie trugen eine Art Uniformmütze, an deren Borde vorn ein Messingschild mit der Aufschrift «Dienstmann» befestigt war.
Schröder verließ gerade mit seinem voll beladenen Flachwagen den Bahnhofsvorplatz. Ich drängte mich durch das Menschengewimmel, zumeist Soldaten und Offiziere. Als ich den Wagen erreichte, sprach ich Schröder an. «Kennen Sie zufällig Oberst Freiherr von Wachtmeister? Ich bin der Freund seines Schwiegersohnes.»

Ich hatte ihn mit Bedacht so angeredet, obwohl ich wußte, daß mein Schwiegervater für ihn kein Unbekannter sein konnte. Meine Rechnung ging auf. Kaum hatte er den Namen vernommen, kam es etwas traurig über seine Lippen: «Ach Gott, wer sollte den guten Oberst von Wachtmeister nicht kennen, der hat doch vor dem Krieg immer mit uns Skat gespielt.» Mein Schwiegervater war sehr leutselig und hatte nicht selten in dem Bier- und Weinrestaurant Eggebrecht an der Lotsenstraße mit Droschkenkutschern, Taxichauffeuren und Dienstleuten zusammen gesessen.
«Dort wollen Sie hin», setzte Schröder seine Rede fort, «aber die armen Leute sind bei dem letzten schweren Luftangriff ausgebombt worden. Der Oberst und die Frau Baronin wohnen jetzt im Haus der Familie Dr. Kemp, die Swinemünde verlassen haben. Wenn Sie Gepäck haben, müssen Sie warten, bis ich wieder zurück bin!»
Doch warten wollte ich auf keinen Fall. Mit einer Schachtel Zigaretten erreichte ich, daß er meinen Koffer noch auflud. Eine Packung Zigaretten oder 100 Gramm Kaffee bewirkten in jener Zeit wahre Wunder. Dafür konnte man für eine Woche ein Zimmer bekommen oder einen guten Anzug und anderes mehr.
 
Swinemünde war am 12.3.45 bombardiert worden.  Von der Roten Armee befreit wurde es erst - nach Hitlers Tod - am 3.5.45. Rokossowskis 2. Belorussische Armee - bekannt aus Stalingrad - hatte eine wichtigere Stoßrichtung: Berlin. 

Ich kam mir an der Seite des Dienstmannes vor, als hätte ich das große Los gezogen. Wie hätte ich denn sonst so schnell zu meinen Schwiegereltern kommen können? Allein die Mitteilung, daß die Eltern meiner Frau noch lebten, noch in der Stadt wohnten und nicht evakuiert waren, war Gold wert.
Je weiter wir uns vom Bahnhof entfernten, desto mehr lichtete sich der Strom der Uniformierten. Wir näherten uns schon dem Villenviertel der Stadt.

Dann hatten wir das Haus von Dr. Kemp, Robert-Koch-Straße 16, erreicht. Es war einmal Eigentum meiner Schwiegermutter gewesen. Ewig in Geldnot, weil meine Schwiegereltern stets «standesgemäß» leben wollten, wozu die Offizierspension nicht ausreichte, war das Haus verkauft worden.
Als sich in diesem Gebäude niemand meldete, verwies mich Herr Schröder auf das Haus der Cousine meiner Schwiegermutter, Käthe von Heyden, schräg gegenüber. Dort, bei dem ältlichen Fräulein, war mir endlich das Glück hold.
Sie öffnete selbst die Haustür und zeigte sich sehr erstaunt, als ein Offizier seinen Koffer vom Flachwagen des Dienstmannes nahm, diesen reichlich entlohnte und mit herzlichem Dank verabschiedete.

«Wer sind Sie, und was wollen Sie?» fragte sie mit leichter Empörung in der Stimme, als ich, ohne mich vorzustellen -was in ihren Kreisen nicht üblich war — etwas energisch bat, eintreten zu dürfen. Ich merkte, daß sie mich ebensowenig wiedererkannte wie Schröder. «Ich suche Herrn und Frau von Wachtmeister. Herr Schröder riet mir, bei Ihnen nachzufragen.»

Meine Antwort entlockte der alten Dame ein einladendes
Lächeln. Nachdem ich dann meinen illegalen Namen genannt hatte - solange ich mich draußen befand, wollte ich mich nicht zu erkennen geben -, bat mich Käthe von Heyden einzutreten. Sie fügte hinzu, ich hätte Glück. Ihre Cousine und deren Mann seien zu einem kurzen Besuch bei ihr.
Schon seit sie mir geöffnet hätte, stand ein etwa achtzehnjähriges Mädchen hinter ihr. Wie ich später erfuhr, handelte es sich um ihre schwachsinnige Nichte Karin. Um das Mädchen vor einem faschistischen Arbeitslager zu retten, hatte sie Karin pro forma als Hausgehilfin angestellt. Das Mädchen folgte dem kurzen Gespräch ohne sichtbare Anteilnahme. Käthe von Heyden ging nun voran, klopfte kurz an die Tür ihres kleinen Salons und sagte beim Öffnen zu meiner Schwiegermutter: «Anni, hier bringe ich euch einen Gast!»

Als ich dann das Zimmer betrat, schauten die beiden alten Leute - mein Schwiegervater war inzwischen über 75 Jahre und seine Frau 66 Jahre alt geworden - verwundert zu mir auf. Wer mochte dieser Offizier zu abendlicher Stunde sein, man erwartete doch schon seit geraumer Zeit keinen Besuch mehr. Doch es dauerte nur Sekunden, als beider Gesichtszüge grenzenloses Erstaunen, vermischt mit Erschrecken ausdrückten: War es Wirklichkeit oder eine Geistererscheinung? Der «Totgesagte» stand leibhaftig vor ihnen.

Die innere Bewegung der drei alten Leute - auch Käthe von Heyden hatte mich nun wiedererkannt - übertrug sich auf mich.
«Mein Gott, Axel», sagte meine Schwiegermutter zu ihrem Mann. «Das ist wahrhaftig der Rudi!» Alle drei begrüßten mich auf das herzlichste. Dann kam die Frage, die ich erwartet und befürchtet hatte: «Wie kommst du denn hierher?»
Was konnte, was durfte ich ihnen über meinen geheimen Auftrag verraten? Ich hatte meine Schwiegereltern zum letztenmal vor fünf Jahren gesehen. War ihre Einstellung die gleiche geblieben? Damals hatten sie das faschistische Regime abgelehnt. Selbst wenn sich ihre Haltung nicht^verändert hatte, und das war eigentlich anzunehmen, würden sie auch bereit sein, mich zu unterstützen?
Ich entschloß mich - mir blieb auch keine andere Wahl -, ihnen anzuvertrauen, daß ich mich unter falschem Namen in der Stadt befand. «Wenn ihr euer und mein Leben nicht gefährden wollt», erklärte ich meinen Angehörigen, «dann sprecht möglichst mit niemandem über mein Auftauchen. Falls jemand aus der Nachbarschaft etwas bemerkt haben sollte und fragt, dann erklärt ihm, ich sei ein Freund eures verschollenen Schwiegersohnes. Hier in Swinemünde wimmelt es ja jetzt von Militär, da wird der Besuch eines Offiziers in eurer Umgebung nicht weiter auffallen.»

Dann brachte ich das Gespräch vorsichtig auf den Bund Deutscher Offiziere. Meine Schwiegereltern und Tante Käthe hörten offensichtlich nicht zum erstenmal von der «Bewegung Seydlitz», wie sie es nannten. Es war ihnen anzumerken, daß sie die Handlungsweise dieser Männer billigten.
«Wir haben es ja immer geahnt», unterbrachen mich meine Schwiegermutter und Tante Käthe fast gleichzeitig, «daß du lebst und dich in russischer Gefangenschaft befindest. Der Greuelpropaganda, die Rote Armee mache keine Gefangenen, haben wir nie geglaubt. So etwas ist für Dumme und Verbohrte bestimmt.» Als sie dann von der «Bewegung Seydlitz» erfuhren, hätten sie angenommen, ich würde dabei bestimmt mitmachen.

Nachdem ich mit Freude feststellte, daß sich an der Gesinnung meiner Angehörigen nichts geändert hatte, brannte es mir auf den Nägeln, vor allem zunächst einmal zu erfahren, wie es um Barbara, meine Frau, und um unsere beiden Kinder bestellt war. Meinen kleinen Sohn hatte ich ja noch gar nicht zu Gesicht bekommen. Meine Schwiegermutter mußte mir meine Gefühlsregung am Gesicht abgelesen haben, denn im gleichen Augenblick, als ich mich nach meiner Familie erkundigen wollte, reichte mir Schwiegermutter ein Foto von meinen drei Lieben. Es zeigte meinen Sohn Axel, für seine drei Jahre ein strammes Kerlchen. Unsere Tochter hatte sich mächtig herausgemacht; das pausbäckige Gesicht von dicken langen Zöpfen umrahmt. Ich war noch in den Anblick des Fotos -" vertieft, da hörte ich Muttchens angenehme Stimme: «Rudi, wir haben seit über einem halben Jahr keine Post mehr von Barbara erhalten. Ob das mit der Landung der angloamerikanischen Truppen zusammenhängt?»

Ich erfuhr, daß Gronau, eine Stadt nahe der holländischen Grenze, in der meine Familie wohnte, von Luftangriffen verschont geblieben war. Das beruhigte mich ein wenig. «Dieser verdammte, gräßliche Krieg hat alle Familienbande zerrissen!» bemerkte mein Schwiegervater ergrimmt.
Damit waren wir wieder beim Thema Kriegsgeschehen, und ich erzählte, daß sich General von Seydlitz mehrfach an der vordersten Front aufgehalten und versucht habe, eingeschlossene deutsche Truppen zur Kapitulation zu bewegen, um den Soldaten und Offizieren das bittere Los von Stalingrad zu ersparen. Als Beispiele schilderte ich Einzelheiten vom Kessel bei Korsun-Schewtschenkowski. Das Kommando der Roten Armee habe großzügige Kapitulationsbedingungen unterbreitet, doch SS-General Gille ließ den Kommandierenden General des XI. Armeekorps, Stemmermann, mit dem Seydlitz brieflich in Verbindung stand, hinterrücks erschießen. Trotzdem sei es einigen hundert Soldaten mit ihren Offizieren gelungen, zur Roten Armee überzutreten. Als ich von Stem-mermanns Ermordung berichtete^ unterbrach mich Tante Käthe. Vor innerer Erregung bildeten sich auf ihren Wangen rote Flecken. «Meinen guten Schimonsky», sie meinte ihren Lebensgefährten, Major a. D. Baron von Schimonsky, «hat diese Bande auch verhaftet. Er hat auch nicht geschwiegen; er hat Gedichte gegen Hitler und seine Spießgesellen verfaßt und vervielfältigt. Ihn muß jemand denunziert haben. Morgens in aller Frühe kam die Gestapo, hat ihn in übelster Art beschimpft und wie ein Stück Vieh in einen Wagen gestoßen.»
Ich 'erfuhr, daß daraufhin sowohl Tante Käthe wie auch meine Schwiegereltern von der Gestapo verhört worden waren. Man schenkte ihren Beteuerungen, nichts vom Handeln des Majors gewußt zu haben, wenig Glauben und drohte ihnen Bestrafung an.
Für mich waren das keine erfreulichen Nachrichten. Ich mußte befürchten, daß die Gestapo meine Schwiegereltern und Käthe von Heyden beobachtete. Bei mir wurden dadurch Signale gesetzt.

Längst war der Abend hereingebrochen. Hier war alles streng verdunkelt, denn Usedom/Wollin lag im unmittelbaren Bereich der angreifenden sowjetischen Fronten. Ich verabschiedete mich herzlich Von Tante Käthe und verließ mit meinen Schwiegereltern das Haus, um ihre Wohnung aufzusuchen.
«Bei dem vielen Erzählen und all den aufregenden Dingen haben wir selbst unseren Hunger vergessen», meinte meine Schwiegermutter, als wir in der Wohnung waren und ich den Koffer geöffnet hatte, um ihr ein paar Konserven zu übergeben. «Axel, setzt euch bitte in das Wohnzimmer», bat sie dann ihren Mann, «und entschuldigt mich, bis ich das Abendbrot fertig habe.»
Mein Schwiegervater - das hatte ich schon bei unserem Wiedersehen bemerkt — schien mir körperlich und nervlich völlig entkräftet. Seine Augen lagen tief und dunkel in den Höhlen, die Wangen waren stark eingefallen. Er schlang eine Tafel Schokolade, die ich beiden geschenkt hatte, in wenigen Minuten mit einer Gier hinunter, wie das in normalen Zeiten seiner Lebensart ganz und gar widersprochen hätte.
Die Lebensmittelration, erklärte er mir, stehe in Swine-münde nur auf dem Papier. Was man der Bevölkerung zuteile, liege weit darunter. Keiner dürfe dagegen aufmucken, das hätte sein Ende, zumindest jedoch Gefängnis ^zur Folge.
Mein Schwiegervater war mit seinem Gardemaß von 1,88 Meter Körperlänge immer ein schlanker* Mann von hohem, aufrechtem Wuchs gewesen. Doch die Hungerration - «zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel» — wirkte sich nun auf ihn besonders nachteilig aus. Augenscheinlich litt er schon an einer starken Unterernährung. Meiner Schwiegermutter, die ihrem Mann nur bis zur Schulter reichte, ging es ein wenig besser, obwohl auch sie unter dem Hunger litt. Beiden fehlte zudem jedes Geschick, sich zusätzlich etwas zum Essen aus den umliegenden Dörfern zu beschaffen. Ihre nächsten Freunde und Bekannten, die hätten helfen können, hatten nach und nach die Insel und die Stadt verlassen.
Nach dem kargen Abendessen, zu dem meine Schwiegermutter aber wie in Friedenszeiten Silberbesteck aufgelegt hatte, erkundigten sich die beiden erneut nach dem eigentlichen Anlaß meines plötzlichen Erscheinens. 

«Ich hatte dich schon vorhin bei Käthe danach gefragt», wandte sich mein Schwiegervater an mich, «habe dann aber zum Aufbruch gedrängt, denn plötzlich fiel mir ein: Was geht das Käthe an? Außerdem ist ihr Haus sehr hellhörig. Was man nicht weiß -macht einen nicht heiß. Hier läßt sich das besser erörtern.»
Im bisherigen Zusammensein mit meinen Schwiegereltern hatte ich die Überzeugung gewohnen, sie würden bereit' sein,
mich nach besten Kräften zu unterstützen. Sie zweifelten
nicht daran, daß der Krieg für das Hitlerregime unabänderlich verloren war und man das Verbrechen so schnell wie möglich beenden mußte. Deshalb ging ich jetzt direkt auf mein Ziel los. «Ihr beiden mit euren Beziehungen zu den tonangebenden Leuten auf der Insel und in Swinemünde verfügt doch gewiß auch über Kontakte zu antifaschistisch eingestellten höheren Offizieren oder anderen einflußreichen Persönlichkeiten. Mit ihrer Hilfe müßte Kurs darauf genommen werden, die Kämpfe auf den Inseln einzustellen und eine friedliche Übergabe in die Wege zu leiten. Das würde Zehntausenden Menschen auf beiden Seiten das Leben retten und die Inseln mit ihren herrlichen Seebädern vor der sinnlosen Zerstörung bewahren.»
Mein Schwiegervater hatte die Angewohnheit, wenn er angestrengt nachdachte, die Unterlippe nach innen zu ziehen. Das geschah .auch jetzt. Nach einer Weile des Schweigens sagte er dann sehr bedächtig: «Wo sollen wir dich unterbringen? In diesem Haus wohnt eine Beamtenfamilie, über deren politische Einstellung wir nichts wissen. Außerdem haben wir die Zuweisung für einen Hauptmann, dem man nachsagt, er sei ein fanatischer Nazi!»
Er legte eine Pause ein, um sich eine Zigarette anzuzünden. Nach ein, zwei Zügen sprach er weiter. «Unter diesen Bedingungen ist eine Unterbringung bei uns unmöglich. Käthe, bei der zudem eine Gestapoangestellte wohnt, scheidet völlig aus. Bekannte kommen nicht in Frage. Sie sind entweder ausgebombt, oder mit Obdachlosen überfüllt. Die Stadt ist ja am zwölften März furchtbar zerstört worden.» Und es gab noch ein weiteres Problem. «Wir können dich nicht anmelden. Dadurch bekommst du keine Lebensmittelkarten. Bei unseren Hungerrationen ist es unmöglich, dich mit durchzuziehen. Die Konserven, die du mitgebracht hast, reichen nicht lange.»
Er hustete, sein Asthma machte ihm zu schaffen. Doch raffte er sich nach einer kurzen Verschnaufpause wieder auf. «Die Unterbringung ist aber nur die eine Sache. Die andere sind die von dir erwähnten Verbindungen. Bis in die ersten Kriegsjahre war das auch der Fall. Aber seither hat sich viel geändert. Die Offiziere, zu denen wir gute Beziehungen besaßen, sind alle im Fronteinsatz, darunter der Garnisonkommandant und der Marinebefehlshaber. Wer jetzt hier das Sagen hat, ist mir völlig unbekannt. Dr. Kemp hatte als Arzt weitläufige Verbindungen. Doch er ist vor einiger Zeit nach Wyk auf Föhr gegangen. Viele seiner Berufskollegen haben gleich ihm der Stadt den Rücken gekehrt. Wer könnte hier noch auf das Geschehen Einfluß nehmen?»
Aus seinen Worten und Gebärden sprach tiefe Hoffnungslosigkeit und Verärgerung, mir nicht helfen zu können. Nach einer längeren Pause, in der er wohl gedanklich noch einmal prüfend alles Revue passieren ließ, meinte er abschließend: «Es tut uns unendlich leid, aber wir befinden uns in einer ausweglosen Lage. Deinen Auftrag akzeptieren wir, dagegen ibt es von unserer Seite keine Einwände. Nein — nein, absolut nicht. Aber die Voraussetzungen, ihn durchzuführen, sind nicht gegeben! Das mußt du verstehen. Darum bitten wir dich!»
So einleuchtend es mir schien, was mein Schwiegervater gründlich durchdacht, ausgesprochen hatte — aber man wird auch mich verstehen, daß ich auf keinen Fall so schnell aufgeben wollte. Konnte ich nicht in die bombengeschädigte Wohnung meiner Schwiegereltern, Kurparkstraße 18, ziehen, die sie nach dem Luftangriff verlassen hatten? Den wenigen verbliebenen Mietern konnte man vielleicht erklären, die Kommandantur habe einen Hauptmann in ein instandgesetztes Zimmer eingewiesen. Das schien bei den chaotisch gewordenen Wohnungsverhältnissen recht glaubhaft. Da meine Konserven für eine Woche reichten, blieb Zeit zum Überlegen, wie ich den bei Leopoldshagen versteckten Rucksack nach Swinemünde holen könnte. Die darin verpackten Lebensmittel würden die Ernährung eine Zeitlang sicherstellen.
Meine Schwiegermutter, die sich bisher noch gar nicht geäußert, aber sehr aufmerksam zugehört hatte, meldete sich nunmehr zu Wort. «Ach, Axel, es mag alles schwer sein, aber ich denke, man muß dem Jungen helfen. So wie er die Dinge vorgebracht hat, müßte es doch möglich sein, daß er bleiben kann.»

Mein Schwiegervater hob seine Augen und schaute seine Frau mit offenem, traurigem Blick an. Dann sagte er mit seiner warmen Stimme: «Nun Mamettchen, überschlafen wir alles. Morgen werden wir weitersehen. Mach dem Jungen das Bett, er hat Tag und Nacht wohl noch kein Auge zu getan!»
Danach erhob er sich, und nochmals zu mir gewandt, setzte er hinzu: «Du hast jetzt deine Ruhe nötig wie wir die unsere. Schlafe gut, das hilft deinen strapazierten Nerven!»
Mit diesem Gutenachtgruß verließ er langsam das Zimmer.

Wie wohltuend empfand ich das frische Bett. Da kam Muttchen nochmals herein, in der Hand ein Bild von meiner Frau und unserem Sohn Axel. «So, da hast du etwas zum Einschlafen. Das wird dir helfen, dich von den Belastungen der letzten Tage zu lösen. Ich wünsche dir eine geruhsame Nacht!»
Mit diesen Worten verließ auch meine Schwiegermutter das Zimmer, und ich war mit meinen Gedanken allein. Wie mochte es jetzt daheim in Gronau aussehen? Wie mochte es Barbara und den Kindern gehen?

Immer wieder nahm ich das Bild vom Nachttisch, immer wieder stellte ich es dahin zurück. Schließlich löschte ich das Licht und versuchte zu schlafen. Obwohl ich bereits über 36 Stunden kein Auge zugetan hatte - Mitterna'cht war bald erreicht -, konnte ich keinen Schlaf finden. Neue Gedanken zerrten an mir: Wie konnte ich mit der Zentrale in Funkverbindung treten, um wenigstens das zu melden, was ich bisher an militärischen Fakten in Erfahrung gebracht hatte? Für die Rote Armee wäre es wichtig zu wissen, daß sich die Reste der geschlagenen Truppen von Kolberg auf Usedom sammelten. Oder auch, daß Swinemünde mit Soldaten aller Waffengattungen, mit italienischen Truppen, Polizeieinheiten und lettischen wie litauischen SS-Verbänden (Livla) neben einem Strom von Flüchtlingen aus den Ostgebieten vollgestopft war. Auch über meine eigene Situation mußte ich die Genossen unterrichten: Beschädigung der Wohnung meiner Schwiegereltern und die Verhaftung Schimonskys bei Käthe von Hey-den. Dazu gehörte auch die Information, daß alle früheren gesellschaftlichen Beziehungen meiner Verwandten bereits seit längerem aufgehoben oder abgerissen waren.

Solange ich jedoch noch nicht einmal über eine sichere Unterkunft verfügte, war an Funken nicht zu denken. Sooft ich auch alles durchdachte, ich drehte mich im Kreise und blieb
ohne Antwort. Erst als der Tag bereits graute, fiel ich allmählich in einen Halbschlaf.

Der Morgen des 24. März war längst angebrochen, als mich meine Schwiegermutter weckte. «Rudi, du kannst aufstehen - das Bad ist frei!»
Als das Frühstück beendet war, erhob sie sich, um das Geschirr abzuräumen. Mein Schwiegervater jedoch, die Unterlippe wieder in den Mund gezogen, die Stirn in starke Falten gelegt, schaute mich fest an, ehe er zu sprechen begann: «Wir haben die halbe Nacht ein sehr ernstes Gespräch geführt. Muttchen und ich haben auch deinen Vorschlag nochmals von allen Seiten beleuchtet. Wie gesagt, die halbe Nacht ist darüber vergangen und bei mir die ganze. Wir sehen keinen Weg, dir zu helfen. Es gibt vor allem keine Möglichkeit, dich sicher unterzubringen. Alle unsere Bekannten, die gegen das Regime sind, haben Usedom verlassen. Niemand von ihnen ist in erreichbarer Nähe. Wir haben das alles eingehend Punkt für Punkt überprüft, um keinern Irrtum zu unterliegen.»
Sowohl vom Reden wie von innerer Bewegung angespannt und erregt, unterbrach er für Augenblicke, um mir dann weiter zu erklären, daß es auch in der Kurparkstraße 18 keine Bleibe für mich gebe. «Nicht ein Mieter lebt mehr im Haus, und deshalb würde es sofort auffallen, würdest du allein dort einziehen.» Auch das Abholen meines versteckten Gepäcks sei unmöglich. «Ich bin überhaupt nicht mehr in der Lage, dir irgendwie körperlich behilflich zu sein. Ich bin restlos verbraucht», ließ sich mein Schwiegervater deprimiert vernehmen.
Die Schwiegermutter, die von nebenan mitgehört .hatte, ergänzte: «Ich muß ihm in allem beipflichten. So schmerzvoll das für uns alle ist, lieber Junge, du mußt uns verlassen, solange noch Züge verkehren. Man munkelt bereits, daß man die Stadt bald nur noch über die Ostsee verlassen kann. Vater wird gleich zum Bahnhof gehen, um sich nach den Abfahrtszeiten der Züge zu erkundigen!» 

Damit waren die Würfel gefallen. Mein Schwiegervater begab sich unverzüglich zum Bahnhof. Nach ungefähr zwei Stunden kam er erschöpft zurück. «Junge», sagte er, mehr keuchend als sprechend, als er ins Zimmer trat, «es ist Schlimmeres eingetreten, als ich dir vorausgesagt habe. Schon unterwegs sah ich an Litfaßsäulen, Mauerresten und so weiter riesengroße Anschläge, auf denen mitgeteilt wird, daß die Oder zur Hauptkampflinie erklärt worden sei. Alle Soldaten und Offiziere haben sich bis Sonntag bei einem Truppenkommando oder Gefechtsstand bis fünf Kilometer westlich der Oder zu melden. Alle anderen Dienstausweise oder Befehle haben nach diesem Zeitpunkt ihre Gültigkeit verloren. Nach diesem Termin aufgegriffene Soldaten werden einem Standgericht übergeben. Gleichzeitig ist über die Stadt der Ausnahmezustand verhängt worden.»
Er hielt vor Anstrengung inne. Danach ergänzte er, daß der Zugverkehr nach dem Westen und für Zivilpersonen überhaupt gesperrt sei. Es verkehrten nur noch Militärzüge in Richtung Ostfront. «Um 14.30 Uhr geht ein Zug in Richtung Stettin!» schloß er.
Ich befand mich in einer ausweglosen Lage. Auch für diesen Fall hatte ich mein Verhalten mit Oberst L. abgesprochen. Deshalb entschloß ich mich, meinen Blankofahrschein nach Stettin auszufüllen, um mich in einem sicheren Versteck von der Roten Armee überrollen zu lassen. Doch das war leichter gesagt als getan.

Bis zur Abfahrt blieb genügend Zeit, noch einige wichtige Dinge zu erledigen. Ich ließ den Transformator meines Funkgerätes zurück. Er war für mich jetzt Ballast geworden. Woher sollte ich noch Energie vom öffentlichen Leitungsnetz nehmen, wenn schon in Swinemünde Stromausfäll die Regel bildete? Die im Lederkoffer mitgeführten Trockenbatterien garantierten eine große Sende- und Empfangskapazität. Ich bat meinen Schwiegervater, den Transformator unter dem Kohlenberg in seinem geräumigen Keller in der Kurparkstraße 18 zu verbergen. Sobald die Rote Armee die Stadt eingenommen hätte, sollte er versuchen, einen Sicherheitsoffizier zu sprechen und ihm über das Zusammentreffen mit mir berichten. Außerdem übergab ich den Eltern noch die Hälfte meiner Konserven, Tee und Kaffee. Jetzt hatte mein Koffer ein normales Gewicht, so daß ich ihn mühelos tragen konnte.
Für den Fall, daß mich die Gestapo fassen würde und meine Schwiegereltern in ihr Visier gerieten, sollten sie aussagen, ich wäre bei ihnen angelaufen und hätte sie gebeten, mich so lange zu verstecken, bis ich zu meiner Familie heimkehren könnte. Das hätten sie strikt abgelehnt mit Ausnahme der einen Übernachtung, da ich ihnen leid getan hätte.
Unser Wiedersehen völlig abzuleugnen, hielt ich für problematisch, ja sogar für gefährlich, weil sicherlich auch Tante Käthe und Karin verhört würden. Gerade bei dem schwachsinnigen Mädchen lag die Gefahr nahe, daß sie plauderte.

Mit Tränen in den Augen nahmen beide von mir Abschied - umarmten und küßten mich. Sobald ich mich dem Bahnhof näherte, füllte wieder das Gewimmel in feldgrauen, blauen und schwarzen Uniformen die Straßen. Überall fiel der Anschlag mit Hitlers Befehl ins Auge: «Die Oder ist die HKL ...», darunter Bekanntmachungen über vollzogene Todesstrafen an Soldaten wegen oft geringfügiger Delikte; zur Abschreckung für alle übrigen.

Auf den Bahnsteigen war das Geschiebe, Gestoße und Gedränge unbeschreiblich. Der Zug nach Stettin wurde hier erst eingesetzt. Ich bekam Platz in einem Abteil, das ausdrücklich «Für Offiziere» reserviert war. Eine Kontrolle auf dem Bahnhof wie vor zwei Tagen fand nicht statt. Dafür sah Waffen-SS unsere Papiere im fahrenden Zug durch.
In  Ducherow mußten alle, die nach Stettin fuhren, ausstei-, gen und auf den Anschlußzug warten. Der längere Aufenthalt gab mir Gelegenheit, die auf dem Bahnsteig anwesenden Personen, zu beobachten. Zwei Seeleute der Handelsmarine fielen mir durch ihren lauten Ton inmitten einer Gruppe von Bahnhof Ducherow  an diesem Seiteneingang zum Bahnsteig nahm die SS scharfe Kontrollen vor Soldaten und Eisenbahnern auf. Um besser zu verstehen, wovon sie redeten, trat ich hinzu und bat um Feuer für meine Zigarette. Sie ließen sich durch meine Anwesenheit nicht stören und fuhren fort, Nazigrößen auf die Schippe zu nehmen. Ich wunderte mich, daß sie eine solche Lippe riskierten. Aber die Umstehenden schien das nur zu amüsieren. Wer weiß, vielleicht hing auch ihnen der Krieg zum Hals heraus. Die Matrosen zeigten ihre Seemannsbücher herum. Danach waren sie u. k. gestellt. Zugleich war darin vermerkt, daß sie sich im Hamburger Seeamt zu melden hätten. Von dem Größeren der beiden hatte ich mir noch den Namen merken.können: Forsack.
Als die beiden Seeleute den einfahrenden Zug nach Stettin bestiegen, folgte ich ihnen. Von meinem Abteil aus konnte ich sie sehen und hören, da sie schräg gegenüber von mir Platz genommen hatten. In ihren Reden auf dem Bahnsteig hatten sie durchblicken lassen, daß sie in Pasewalk übernachten wollten. Mir direkt gegenüber saß ein hochdekorierter Oberstleutnant. Er trug das Ritterkreuz.
Um so erstaunter war ich, als er Forsacks politische Witze an mich gewandt mit den Worten kommentierte: «Der Junge gefällt mir. Hoffentlich befindet sich hier kein Denunziant im Waggon, sonst ist er reif!»
Durch diese Bemerkung wurde mein Interesse von den beiden Seeleuten abgelenkt und konzentrierte sich ganz auf den Oberstleutnant. Im Laufe des sich anbahnenden Gesprächs erzählte er mir, daß er als Regimentskommandeur bereits drei Regimenter verheizen mußte, und erbittert fügte er hinzu: «Ich bedaure nur, nicht selbst den Tod gefunden zu haben.»
Unser Gespräch wurde durch dröhnendes Motorengeräusch angreifender sowjetischer Jagdflugzeuge, vermengt mit dem Tacken von Bordwaffen, unterbrochen. Die Bremsen des Zuges kreischten, ruckartig stoppte er - wir flogen von den Bänken und stürzten hinaus, um Deckung vor und hinter dem Bahndamm zu suchen. Bis Pasewalk waren es ungefähr 35 Kilometer, und der Zug hielt noch dreimal wegen solcher Angriffe.
Bei jedem dieser unfreiwilligen Aufenthalte lag ich neben dem Oberstleutnant. Dabei lernte ich seine Ablehnung des Hitlerregimes immer deutlicher kennen. Als er mir offenbarte, daß er an der vordersten Front - die HKL lag bei Stettin - einen Truppenteil übernehmen solle, bat ich ihn, mich dort in seinem Stab unterzubringen. Ich hoffte, den Oberstleutnant für meinen Auftrag gewinnen zu können.
Er beantwortete meine Bitte zunächst jovial. «Wenn alles so leicht zu erfüllen wäre! Da kann ich Ihnen sofort meine Zustimmung geben.» Doch dann hielt er inne, schaute mich durchdringend an und, als habe er meine Gedanken erraten, fragte er mich ruhig, aber bestimmt: «Was versprechen Sie sich von einer Indienststellung unter meinem Kommando?»
Als ich schwieg, fuhr er fort, daß er das Gefühl nicht los werde, ich trüge etwas auf dem Herzen, was ich wohl nicht gleich preisgeben wolle. Ihm könne ich alles sagen, von ihm hätte ich nichts zu befürchten. «Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.»

Seine Person, sein ganzes Verhalten flößten mir Zuversicht ein, und mir schien, daß die Stunde eingetreten sei, die mich aus meiner Ungewissen Lage befreien und mir Bedingungen schaffen würde, doch noch meinen Auftrag erfüllen zu können, wenn auch an einem anderen Ort und unter veränderten Verhältnissen. Eine einmalige Chance, die nicht vertan werden durfte. Als ich ihm antwortete, knüpfte ich an seine Worte an, daß dieser verbrecherische Krieg nicht fortgeführt werden dürfe. «Wer das erkannt hat», so schlußfolgerte ich, «sollte auch mithelfen, diesen Krieg schnellstens zu beenden. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise, mit der neu aufgestellten Truppe zu kapitulieren, kampflos auf die Seite der Roten Armee zu treten, um auf beiden Seiten Tausenden das Leben zu retten.»
 

Der Oberstleutnant fragte: «Und wie soll eine kampflose Übergabe vonstatten gehen, ohne daß man von beiden Seiten beschossen wird?»
Aus seiner Frage glaubte ich eine positive Entscheidung herauszuhören. In Sekundenschnelle machte ich für mich die Rechnung auf, daß diese einmalige Chance auch ein großes Risiko wert sei. Deshalb vertraute ich ihm an: «Ich bin in der Lage, Funkverbindung mit der Gegenseite herzustellen. Man ist dort zu jeder Zeit darauf vorbereitet. Alle notwendigen Maßnahmen können abgesprochen werden.»
Der Oberstleutnant bat mich erneut um eine Zigarette. Ich hielt ihm die Schachtel und Feuer hin. Nach einem tiefen Lungenzug erklärte er: «Mann, haben Sie Nerven. Und daß es schiefgehen könnte, haben Sie wohl nicht einkalkuliert? Wenn die SS und die geheime Feldpolizei, die jetzt überall ihre Augen und Ohren haben, davon Wind kriegen, geht's uns genauso an den Kragen wie den Kameraden vom 20. Juli. Selbst einem Generalfeldmarschall von Witzleben ist der Galgen nicht erspart geblieben. Sie haben wohl keinen blassen Dunst, wie bei der Gestapo gefoltert wird? Nein, nein, das alles könnte ich nie aushalten. Eine Kugel in vorderster Linie, das wünsche ich mir sogar. Aber das andere, niemals! Ich bewundere Sie, doch Sie tun mir auch leid. Denn ich kann da nicht mitmachen. Ich werde von diesem sinnlosen Krieg bis zum bitteren Ende durch die Mangel gedreht. Natürlich kann ich Sie bei mir unterbringen. Sie brauchen ja nicht hervorzutreten, können für das Überleben sorgen, aber alles andere ist nicht drin. Nichts für mich!»
Bei einem nochmaligen Aufenthalt des Zuges versuchte ich erneut, in den Oberstleutnant zu dringen, ihn umzustimmen.

Doch alle Mühe war vergebens. Wie so vielen fehlte es auch ihm an Zivilcourage. Hochdekoriert für die schlechteste, die barbarischste Sache der Welt, fand er nicht den Mut zur Umkehr, sein Leben und das von Tausenden anderen zu retten. Und das entgegen seiner Einsicht in den verbrecherischen Charakter dieses Krieges.
Als der Zug am Abend endlich Pasewalk erreichte, verabschiedete ich mich kurz-von dem Oberstleutnant. Er drückte mir noch fest die Hand und wünschte mir viel Glück.
Ich mußte meine kurze starke Hoffnung in einer herben Enttäuschung begraben.
 

Anfänglich ging diese Enttäuschung in Niedergeschlagenheit über. Doch konnte ich mir das in meiner Lage leisten? Ich mußte mich jetzt darauf konzentrieren, wie es weitergehen sollte. In der Stadt durfte ich nicht auftauchen, da konnte ich leicht ein Opfer der Feldgendarmerie werden. Aber wo sich verstecken, wo untertauchen und vor allem, wie Kontakt zur Zentrale herstellen?
Mir fielen die beiden Matrosen ein, die während der ganzen Fahrt weiter auf ihre Umgebung eingeredet hatten. Sie waren wie ich in Pasewalk ausgestiegen. Ich sah, wie sie ihre Seesäcke am Gepäckschalter abgaben. Wenn ich mich den beiden anschloß? Vielleicht konnten sie mich mit Seemannskleidung versorgen? Außerdem würde ich in Gesellschaft weniger auffallen als allein. Andererseits: Durfte ich den Schritt wagen? Ihren Worten nach zu urteilen, schienen die beiden Matrosen das Hitlerregime abzulehnen. Aber - war das ihre tatsächliche Gesinnung? Waren sie womöglich als Provokateure eingesetzt? Doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt,
[Ja der Rudi - er wiederholt sich .:-)]
und mir blieb ja auch keine große Wahl. Ich drängte mich in die Nähe der beiden Seeleute. Hinter ihnen verließ ich den Bahnhof. Pasewalk war in tiefes Dunkel gehüllt.
Nach einiger Zeit sprach ich die beiden an. Ich schlug ihnen vor, gemeinsam außerhalb der Stadt bei einem Bauern Quartier zu nehmen. Sie willigten ein, wobei sie sich obendrein noch etwas Anständiges zum Essen versprachen, weil es zweifelhaft schien, zu so später Stunde im Seemannsheim überhaupt noch einen Imbiß zu erhalten. Wir umgingen die Straßenkontrollen und erreichten unbehelligt die Landstraße nach Prenzlau, die jetzige Fernverkehrsstraße 109.
Nachdem wir etwa einen Kilometer geradeaus gegangen waren, stießen wir auf ein abgelegenes Bauerngehöft, das -vermutlich infolge der heranrückenden Front - von seinen Bewohnern verlassen worden war. Wir ließen uns im Vorgarten nieder. Ich bot Zigaretten an. Beim Rauchen kam ich auf die politischen Witze meiner Begleiter zu sprechen. Ich gab vorsichtig zu verstehen, daß ich nicht mehr an einen Sieg glaube und aus diesem Grunde beschlossen hätte, meine Haut nicht weiter für diesen sinnlosen Krieg zu Markte zu tragen. Da ich die Gesten und Bemerkungen als Zustimmung deutete, fuhr ich fort: «Euren Gesprächen habe ich entnommen, daß ihr ähnlich denkt. Ich habe mich euch angeschlossen, weil wir vielleicht gemeinsam handeln könnten. Zuerst müßte ich meine Uniform loswerden.»
Forsacks Kamerad, der eine ähnliche Statur wie ich hatte, unterbrach mich. «In unseren Seesäcken stecken genügend Klamotten, und meine Sachen passen Ihnen bestimmt!»
Wir kamen überein, auf dem Bauernhof die Nacht zu verbringen. Am nächsten Tag würden wir weitersehen. Doch zunächst wollten meine neuen Bekannten ihre Seesäcke von der Gepäckaufbewahrung holen. Ehe sie loszogen, aßen wir gemeinsam von meinem Lebensmittelvorrat. 

Vielleicht konnte ich nun doch noch eine Verbindung zur Zentrale herstellen? Das Bauerngehöft eignete sich ausgezeichnet für die Aufnahme des Funkverkehrs. Möglicherweise würden auch die beiden Seeleute dafür zu gewinnen sein, nicht nur die eigene Haut zu retten, sondern mich bei meinem Auftrag zu unterstützen.
Allmählich versagten meine Kräfte. Die Augen fielen mir schon zu, als die Matrosen sich gegen 23 Uhr entfernt hatten. Ich legte mich in das Kiefernwäldchen, das unmittelbar ans Bauerngehöft grenzte, und fiel sofort in einen Halbschlaf. Verständlich, wenn man bedenkt, daß ich seit Donnerstag, dem 22. März, bis jetzt, Sonnabend nacht, kaum ein Auge zugetan hatte. Hinzu kam, daß ich während dieser drei Tage und Nächte ständig unter höchster Anspannung aller meiner Sinne gelebt hatte. Auch jetzt fühlte ich mich durchaus nicht sicher. Unentwegt kreiste durch mein Dahindämmern der Gedanke: Sind die beiden echt, oder sind es Provokateure, die von den Faschisten eigens auf Soldaten und Offiziere in den Transporten angesetzt sind, um Gegner des Regimes und des Krieges aufzuspüren und auszuliefern?
In meinen nervösen Schlaf ertönte der mit den Seeleuten vereinbarte Pfiff. Ich war sofort wach. Ein Blick auf die Uhr: Es war 1.30 Uhr. Sonntag, der 25. März, war angebrochen.
Der Pfiff löste in mir neue Hoffnung, aber auch unterschwellig Zweifel aus, als ich mich aus meinem Versteck erhob. Im gleichen Augenblick, als ich die beiden Seeleute erblickte, sah ich, daß das gesamte den Bauernhof umgebende Gelände von Bewaffneten umstellt war. Der Ruf: «Hände hoch, oder du wirst erschossen!» erscholl durchdringend, und plötzlich spürte ich die Mündung einer Maschinenpistole in meinem Rücken.
Das Kiefernwäldchen lag auf einer kleinen Anhöhe. Von dort konnte man die Straße, die nach Prenzlau führte, überblicken. Man fesselte meine Hände auf dem Rücken und stieß mich den Feldweg zur Landstraße hinunter. Dabei bedachte mich ein grauhaariger Oberleutnant unentwegt mit einer Schimpfkanonade: «So ein Lump!  Wenn solche Verbrecher wie du nicht wären, hätten wir längst den Krieg gewonnen! 

Wer dich bloß zum Offizier gemacht hat, du Bolschewisten-schwein!» Sein Vokabular, das sich über mich ergoß, schien unerschöpflich.
Als ich den ersten Schock überwunden hatte, nahm ich die Szene wahr, die sich um mich abspielte. Wie viele Soldaten! Warum solch ein Aufgebot? Wahrscheinlich hatte man den Angaben Forsacks und seines Komplicen keinen Glauben geschenkt, daß sich bei dem Gehöft nur ein einzelner «Deserteur» aufhalte. Man vermutete offenbar um den Offizier gleichgesinnte Soldaten. Das konnte ich später auch aus den Fragen bei den ersten Vernehmungen schließen.
Grelles Scheinwerferlicht leuchtete auf, es kam von einem Schützenpanzerwagen.
Für einen Augenblick konnte ich in die Gesichter blicken. Aus ihnen schien Verwunderung zu sprechen, daß sich ihnen ein Frontoffizier näherte. Während vorher noch ein ziemliches Stimmengewirr zu vernehmen war - Forsack und sein Kumpan standen mitten unter den Soldaten -, trat plötzlich Stille ein. Ich wurde in einen PKW geschoben, und wenig später saß ich dem Leiter der Gestapo in Pasewalk, Kriminalkommissar und SS-Hauptsturmführer Essig, gegenüber. Er war auch bei meiner Festnahme dabeigewesen.
Schon bei der Vorbereitung meines Auftrages war genau abgesprochen worden, wie ich mich im Falle einer Verhaftung zu verhalten hätte. Jedes Mittel sei recht, hatten mir die Genossen erklärt, wenn nur der Gegner damit getäuscht würde. Entscheidend sei, daß er nichts erfahre, was er nicht wissen dürfe. «In den Händen der Gestapo bist du 
von aller Welt abgeschnitten. Warum vor diesen Verbrechern den starken Mann spielen? Man muß sie täuschen, sie hinhalten, um in einem geeigneten Augenblick zu versuchen, ihnen zu entwischen. 

Niemals sich aufgeben, solange man noch einen Hauch von Atem in sich verspürt», hatte mich Oberst L. instruiert.
Ich war gefaßt, denn ich hatte mich oft genug auch mit dieser Lage beschäftigt, die nunmehr eingetreten war. Ich wußte von Anbeginn meiner freiwilligen Verpflichtung, daß sie immer mit dem Risiko verbunden war, in die Fänge des Gegners zu geraten und unter Umständen das Leben hinzugeben. Äußerlich spielte ich den Zusammengebrochenen, während ich mich innerlich auf meine Aussagen und mein weiteres Verhalten vorbereitete.
So redete ich dem Gestapochef ein, ich hätte die Möglichkeit genutzt, der Gefangenschaft den Rücken zu kehren und zu meiner Familie zu gelangen.

Auf die sich daran anschließende Frage, daß es dann doch wohl logisch gewesen wäre, mich nach dem Absprung sofort bei der nächsten Behörde zu melden, reagierte ich mit dem Argument, davor hätte ich Bedenken gehabt, denn mit dem Absprung sei doch der Tatbestand des Hochverrats erfüllt. Ich hätte Angst gehabt, in die Mühle der Polizei und Justiz zu gelangen. Mein einziges Ziel sei gewesen, mir mit Hilfe der Seeleute Zivilkleidung zu verschaffen und mich dann nach meinem Heimatort Gronau durchzuschlagen.
Dabei kam mir zupaß, daß Forsack bei einer Gegenüberstellung bestätigte, ich hätte ihn und seinen Kumpel gebeten, mich mit Seemannskleidung auszustatten, um mich der Uniform zu entledigen.
Nachdem ich fünf Tage im Polizeigefängnis Pasewalk eingesessen hatte, wurde ich am Freitag, dem 30. März 1945, in Begleitung von Essig und zwei SS-Bewachern über Prenzlau zu einem Rittergut gefahren, wo sich der Höhere SS-Stab «Weichselkopf» befand. Ab Prenzlau wurden mir die Augen verbunden. Der Sitz des Stabes - auch der Weg dorthin - sollte vor mir geheimgehalten werden. Erst als das Fahrzeug im Innenhof hielt, würde die Binde entfernt.
Ich wurde SS-Hauptsturmführer Schneider übergeben. 
[Die genannten Namen Forsack, Essig, Schneider usw.  sind mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit korrekt. Rudi hatte sich nach dem Krieg Notizen gemacht, zudem akribisch recherchiert und ließ lieber mal einen Namen weg als etwas Falsches behaupten zu wollen. Ein wenig konnte auch ich ihm bei der recherche helfen.]

Dieser SS-Offizier gab mir mit näselnder Stimme zu verstehen, daß er nicht nur Offizter der Waffen-SS sei, sondern auch den juristischen Grad eines Gerichtsassessors besitze.
Im Park waren mehrere Unterkünfte für Soldaten errichtet. Zu einer dieser Baracken führte er mich und wies mir meinen Aufenthalts- und Schlafplatz zu, ein Feldbett im hinteren Teil eines großen Raumes. Dabei ließ er mit betonter Nonchalance die Bemerkung fallen: «Sollten Sie einen Fluchtversuch wagen, sind Ihnen die blauen Bohnen der eigens für Sie eingesetzten Wache sicher. Also bleiben Sie schön brav.»
Damit stolzierte er in siegesbewußter, kerzengerader Haltung zur Barackentür.

Am nächsten Tag, es war Ostersonnabend, wurde ich zum Verhör geholt. Doch der SS-Mann stellte seine Fragen nicht systematisch, er fragte durcheinander - vielleicht in der Hoffnung, mich mit dieser Methode verwirren zu können und widersprüchliche Aussagen zu erreichen. Als er nach geraumer Zeit feststellte, daß auch seine Fangfragen kein Ergebnis brachten, schloß er die Vernehmung mit den Worten: «Und funken können Sie? - Haben Sie mit dem mitgeführten Gerät bereits gearbeitet?»
Als ich beides bejahte, sagte er bestimmt: «Dann werden Sie für uns schon bald den Funkverkehr aufnehmen. Wir werden den Feind täuschen. Wenn Ihnen das gelingt, können Sie einen Teil Ihrer Schuld wieder gutmachen und Ihren Kopf retten. Aber sollten Sie auch nur den geringsten Versuch unt'ernehmen, uns zu betrügen, dann ist es aus mit Ihnen. Erfahrene Funker werden Sie streng überwachen. Ist das absolut klar?»
Nach der knappen militärischen Bestätigung «Jawohl, Herr Hauptsturmführer!» entließ er mich, selbstzufrieden lächelnd.

Um das angekündigte Täuschungsmanöver auszuführen, wurde ich - über einige Zwischenstationen - in die Dienststelle der Gestapo nach Swinemünde gebracht. Sie war in der ehemaligen Pension «Prinz Eitel Friedrich», unmittelbar am Kurpark, untergebracht.
Es muß der 19. oder 20. April 1945 gewesen sein, als das Funkspiel begann.
Zunächst mußte ich einen Text der Heeresgruppe verschlüsseln, der falsche Angaben über Truppenbewegungen, vor allem über Schiffe, enthielt. Die Verschlüsselung wurde von einem Funkspezialisten, Kriminalsekretär Krüger, überprüft. Er war eigens zu meiner Überwachung von der Ge-stapo-Hauptstelle Stettin nach Swinemünde beordert worden.

Bevor das Funkspiel seinen Anfang nahm, forderte mich Krüger auf, vor dem Leiter der Dienststelle, SS-Obersturmführer Zielfeld, zu erscheinen. Zielfeld erhob sich und zog seinen Uniformrock straff, als wir sein Zimmer betraten. Den Blick gesenkt, in der rechten Hand mit einem Brieföffner klopfend, erklärte er mit scharfer Stimme: «Die Aktion beginnt nun. Zu Ihrer Überwachung sind Kriminalsekretär Krüger und ein Funkoffizier eingesetzt. Ich weise Sie nachdrücklich darauf hin, daß jeder Versuch, die Gegenseite wissen zu lassen, unter welchen Bedingungen Sie arbeiten, Ihr Ende 
bedeutet. Aber nicht durch Erschießen, sondern wie das bei Verrätern üblich ist. Im Kurpark sind noch genügend Bäume frei. Verstanden?»

Das darauf erschallende «Jawohl, Herr Obersturmführer» hatte Krüger so laut ausgerufen, daß meine Antwort übertönt wurde.
Nach diesem Befehlsempfang konnten wir abtreten.
Würde es mir gelingen, ohne daß meinen Bewachern etwas auffiel, die Gestapo zu täuschen? Ich mußte die Zentrale beim ersten Funksprüch unzweideutig wissen lassen, daß ich unter Druck arbeitete, in die Hände der Gestapo gefallen war. Sollte dies mißlingen, so würden die gefälschten militärischen Nachrichten als echte Informationen aufgenommen und vielleicht bei der Roten Armee zu Fehlentscheidungen führen. Das könnte Verluste an Menschen und Material bedeuten, Auf das Ergebnis komme es an. Hier lag meine Entscheidung, Ich hatte also so zu handeln, daß die Zentrale von Anbeginn wußte, alle von mir einlaufenden Meldungen waren Desinformationen des Gegners.
Zur Verschlüsselung diente ein «Evangelisches Gesangbuch für den Feldgottesdienst».
Bei der Vorbereitung meines Einsatzes hatte ich mit den Genossen vereinbart, daß ich bei normalem Funkverkehr beispielsweise auf Seite 15 des Gesangbuches mit der Verschlüsselung beginnen würde. Sollte ich dagegen unter Druck arbeiten müssen, würde das Verschlüsseln zum Beispiel ab Seite 30 seinen Anfang nehmen.
Daß ich mit der Verschlüsselung an jener Stelle im Gesangbuch eingesetzt hatte, die wir für den Ernstfall vorgesehen hatten, davon konnte Krüger nichts ahnen, als er die erste chiffrierte Meldung überprüfte. Für ihn war alles in Ordnung.
Ich wurde von Krüger und Notzke - so hieß mein anderer Bewacher - an einem der beiden genannten Apriltage in ein nahegelegenes Stabsgebäude der Kriegsmarine gebracht. In einem größeren Raum, der wahrscheinlich zur Funkstelle des Marinestabes gehörte, war an der Fensterfront auf einem langen Tisch mein Funkgerät aufgebaut. Beim Eintritt in den Raum wurden Krüger und Notzke von einem Leutnant zur See - er hieß ebenfalls Krüger -, einem Funkoffizier, begrüßt. Er war als weiterer Mann zur Überwachung meines Funkverkehrs abkommandiert. Nachdem Notzke sich entfernt hatte, setzten wir drei uns vor den Tisch, links von mir Marine-Krüger, rechts Gestapo-Krüger. Wir stülpten die Kopfhörer auf. Ich suchte die festgelegte Wellenfrequenz und stimmte auf das mir bekannte Morsezeiehen ab: Dann drückte ich zu der von der Zentrale vorgegebenen 
Uhrzeit die Taste. Ich rief die Gegenstelle mit dem vereinbarten Rufzeichen dreimal an: «Anton! Anton! Anton!» und schaltete danach mit «Bitte kommen!» auf Empfang.
Mich erfaßte eine ungeheure Spannung, und ich fühlte, wie mir das Blut zu Kopfe stieg. Als mein «Rufname» ertönte, ging die Aufregung schon in eine freudige Erwartung über. Dann kam die Anfrage: «Wie hören Sie mich? Bitte kommen!»
In der Funksprache gibt es die Lautstärkenstaffelung von 1 bis 5 bal. Um festzustellen, wie man sich hört, beginnt der Funkverkehr immer mit der wechselseitigen Anfrage nach der Lautstärke.
Unter normalen Umständen hätte ich geantwortet, und zwar nur ein einziges Mal: «Ich höre Sie mit 3.»
Da ich aber unter dem Druck des Gegners stand, setzte ich das Erkennungszeichen ab, das ich mit den Genossen für diesen Fall abgesprochen hatte: Zweimal gab ich durch: «Ich höre Sie mit 5.»
Die Gegenstelle quittierte: «Verstanden. Wir hören Sie auch mit 5. Was haben Sie zu melden?»

Als zweites Erkennungszeichen, daß ich mich in Haft befand, funkte ich nach den Abmachungen nun die Anrede: «An Chef», die normal gelautet hätte: «An Zentrale». Dann erfolgte die bereits genannte Desinformation der Heeresgruppe. Hierbei wurde für die Gegenstelle das dritte Erkennungszeichen sichtbar, nämlich daß die Verschlüsselung nicht wie bei unbelastetem Funkverkehr auf Seite x (zum Beispiel Seite 15), sondern bei Arbeit unter Druck bei Seite y (Seite 30) begann. Als viertes Erkennungszeichen war vereinbart, die abgesetzte Meldung mit einem anderen Decknamen zu unterzeichnen (zum Beispiel normal: Peter; unter Druck: Walter).
Nun erwartete ich mit großer innerer Erregung die Antwort. Ich spürte den Druck der Hörmuscheln so fest auf meinen Ohren, als preßte sie mir jemand an. Dann nahm ich auf: «Wir beglückwünschen Sie zur erfolgreichen Landung - wir bleiben weiter auf Empfang.»
Normalerweise war dieser Spruch nicht vorgesehen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Die Zentrale hatte erkannt, daß ich mich in Haft befand und alle Meldungen Lug und Trug waren. In dem Gruß kam aber auch, nur für mich zu deuten, zum Ausdruck: «Wir bleiben so lange auf Empfang, bis Ihnen die Flucht glückt. - Alles Gute!»
Als ich den Kopfhörer abnahm, stand Gestapo-Krüger mit den Worten auf: «Ich muß jetzt mein Morgenei legen!»
Der Marineoffizier war nun einige Zeit mit mir allein und meinte: «Hörten Sie die Gegenstelle tatsächlich mit 5 bal? Ich höchstens mit 4. Aber das ist wohl bei jedem individuell etwas verschieden.»
«Da haben Sie nicht unrecht - genaugenommen habe ich die Lautstärke mit 4 bis 5 vernommen. Da es jedoch keine Zwischenwerte in der Durchsage gibt, gab ich 5 an», spann ich den Faden weiter.
«Ist ja nicht von Bedeutung, und so ein Berufsnarr der Funkerei bin ich nun auch wieder nicht, daß ich auf Kleinigkeiten herumreite.»
Ehe ich noch etwas darauf antworten konnte, erschien Gestapo-Krüger wieder auf der Bildfläche und gab uns Bescheid: «Notzke kommt gleich, dann können wir gehen!»
Damit hatte eine spannungsgeladene Stunde ihr Ende gefunden.
Die Zentrale war über mein Schicksal im wesentlichen unterrichtet, und dem faschistischen Gegner war es mißlungen, aus mir Kapital zu schlagen.
Dieser Tag gab mir Auftrieb und stärkte meinen Lebensmut.
 
 

Die Gestapo verschleppte Rudolf Fey noch in den letzten Kriegstagen auf ein Schiff. Dort gelang es ihm gemeinsam mit einigen anderen, den Kapitän zu entwaffnen und die Gestapo auszuschalten. Auf nicht ungefährlichem Wege kehrte er Ende Mai 1945 zu seiner Familie nach Gronau zurück und arbeitete aktiv in der Kommunistischen Partei Deutschlands mit.


Fey, Rudolf, 17.5.1914 (Bochum) – 20.7.1999
Sohn einer Kaufmannsfamilie, Abitur, 1933 NSDAP, Wehrmacht, Oltn, Sept. 1941 sowj. Kgf.,
Antifaschulen in Jelabuga, Oranki u. Krasnogorsk, 1943 Mitbegr. d. BDO, Mitarbeit im
NKFD, Aufklärer d. Roten Armee, Fallschirmabsprung im Hinterland d. dt. Front zwecks
Herstellung von Kontakten mit antifasch. Widerstandsgruppen, März 1945 Verhaftung durch
Gestapo, Mai 1945 Flucht aus Militärgefängnis Swinemünde, Aug. 1945 KPD, 1969 DKP,
Funktionen im PV des KPD bzw. DKP-Bundesvorstand.

So steht es in einer Kurzbiographie im Internet. Daß er immer bei der VVN mit dabei war, sie in der DDR mit -wiedergründete, bei Forschungen zum NKFD mitarbeitete, bei der DRAFD, immer den 20. Juli ehrte und seine Hochachtung auch vor den konservativeren Offizieren nie verleugnete, daß er erschrocken über Hakenkreuzschmierereien in der DDR war, dementsprechend auch mal "ne dicke Lippe riskierte", in Schulen auftrat und referierte - es ist so viel mehr zu erzählen ...
 


    (c) Andreas Hauß, April 2007
http://www.medienanalyse-international.de/ueberblick.html

Im Übrigen bewundere ich Frau Klarsfeld.