Gauer

Wolf Gauer ist Journalist und Filmemacher. Er lebt in Brasilien und schreibt u.a. für die Zeitschrift Ossietzky, Nachfolgerin der "Weltbühne", die dem deutschen Journalismus zu Beginn des vorigen Jahrhunderts zur Ehre gereichte. Ossietzky orientiert sich strikt an diesem Vorbild (s.a. »http://ossietzky.net).
 

 
 

  



Wolf Gauer 

Kantuta


Die Kantuta-Blume (Cantua buxifolis) war den Inkas heilig. Ihre Farben sind die der rot-gelb-grünen Trikolore Boliviens. Auf dem Kantuta-Platz im brasilianischen São Paulo treffen sich sonntags viele der 30.000 bolivianischen Immigranten. Andine Rhythmen, Quinoa-Körner zum halben Preis, bolivianische Küche und an den Wänden Zitate aus Eduardo Galeanos „Die offenen Adern Lateinamerikas“.

Auch am trüben 21. Februar füllt sich das Areal. Es ist der Tag des Referendums zur Verfassungsänderung „nebenan“, in Bolivien. Es geht um den Artikel 168 der jungen Charta Magna von 2009, um die Frage, wie oft ein gewählter Präsident nebst Vizepräsident wiedergewählt werden darf. Konkret: Kann das Gespann Juan Evo Morales Ayma und Alvaro García Linera 2020 ein drittes Mal kandidieren? Die übrigen Verfassungsprinzipien des „buen vivir“ (sinngemäß: „gut zusammen auskommen“, alle Übers.: W. G.) blieben davon unberührt (vg. „Sumak Kawsay“, Ossietzky 20/2008).

Ich fragte „unsere“ Bolivianer. Mehrheitlich „evistas“, Anhänger von Evo Morales und wie dieser aus dem kargen und von originärer Bevölkerung besiedelten „altiplano“. Sie sind für eine dritte Amtszeit (de facto die vierte des jetzigen Präsidenten, da seine erste in den Geltungsbereich der vorherigen Verfassung fällt). Seit seinem Regierungsantritt (2006) kehren viele in die Heimat zurück, da sich die dortige Lebensqualität kontinuierlich verbessert. Die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums reduzierte die Armut schon in den ersten fünf Jahren von 60 auf 48 Prozent und die Arbeitslosigkeit von 8,5 auf stabile vier Prozent (2005: 8,15 Prozent). Drei Viertel der in São Paulo verbliebenen Immigranten haben für den Änderungsantrag gestimmt, ebenso ihre Kollegen in der argentinischen Hauptstadt.

Nicht so in Bolivien selbst: Die Ja-Stimmen blieben mit 48,7 Prozent knapp unter den Erwartungen der Regierung, das mehrheitliche Nein (51,3 Prozent) wurde aber klaglos akzeptiert. 2009 hatten immerhin 62 Prozent der Charta zur völligen Neugründung des „Plurinationalen Staates Bolivien“ zugestimmt, von der man damals in Deutschland lesen konnte: „Die Verfassung ist so angenehm anders, dass man es als Europäer kaum glauben kann, … ein scharfer Kontrast zum EU-Vertrag von Lissabon, der so ziemlich das Gegenteil zur bolivianischen Verfassung darstellt.” (Sein, 9.10.09).

Dennoch und nicht ohne Häme sind deutschsprachige „Qualitätsmedien“ mit der atlantischen Lesart bei der Hand: „Bolivianer haben genug von Evo Morales“ (n-tv), „Ende der Ära Morales besiegelt“ (Wirtschaftsblatt), „Evo Morales ausgezählt“ (Freie Welt).

Morales’ sozialistisches Bolivien gilt nämlich heute sogar bei seinen verabschiedeten kolonialistischen Zuchtmeistern, darunter der Weltwährungsfonds und die Privatisierungsagentur Weltbank, als wirtschaftlich und sozial erfolgreichstes Land Lateinamerikas. Mit Wachstumsraten zwischen vier und sechs Prozent und stabileren politischen Perspektiven als in den sogenannten linken Staaten Venezuela, Ekuador, Brasilien und Uruguay. Resultat der Nationalisierung der natürlichen Ressourcen (Gas, Öl, Mineralien und Wasser) und des beispiellosen Aufbaus einer sozialen Infrastruktur „für alle“. Beide entsprechen der traditionell kommunalen Denkweise der andinen Indigenen und ihrer Vorstellung von einem gerechten Miteinander. Zum Missfallen der US-amerikanischen Unterminierungsstrategen und ihrer weißen bolivianischen Parteigänger in den fruchtbaren Departements des östlichen Tieflands. Bei seinem ersten Amtsantritt (2006) musste der Präsident noch höchstpersönlich eine Büroflucht des Regierungspalastes räumen lassen, in der nach altem Brauch der US-amerikanische Geheimdienst CIA nistete (mehr zu Morales’ resolutem Umgang mit US-Agenten in „Brandstifter verjagt”, Ossietzky 19/2008).

Als 2010 der über das Amt des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zum Waffenlobbyist qualifizierte Dirk Niebel um den Abbau volkseigener bolivianischer Rohstoffe feilschte, beschenkte er, ganz deutscher Diplomat, Evo Morales mit einem Brocken der Berliner Mauer – als Omen aller sozialistischen Zukunft. Morales, der seine Kindheit in der unvorstellbaren Armut und Dürftigkeit der Aymará-Kleinbauern verbrachte und erst mit sechs Jahren erste Spanischkenntnisse auf argentinischen Zuckerplantagen erwarb, bewies (für Niebel unerreichbare) Klasse. Er warf den Unrat weder dem Überbringer an den Kopf noch in den Papierkorb, sondern beendete freundlich lächelnd die Unterredung. Die imperiale Arroganz, mit der Merkels NATO-EU noch 2013 Morales‘ Überfliegen Europas erschwert hatte, ist inzwischen demütigem Anstehen um bolivianisches Lithium gewichen.

Warum nun und nach so viel Erfolg an der vorbildlichen, selbstentworfenen Verfassung rütteln? Zu einem Zeitpunkt, zu dem so viele Regierungen um ihren Fortbestand kämpfen, die sich um alternative Modelle zum imperialistischen Neoliberalismus bemüht haben? In Venezuela, Brasilien, Ekuador und selbst auf Kuba? Und nach dem pünktlich orchestrierten Versuch der US-Botschaft, die aktuellen Machenschaften einer blondierten Lobbyistin dem Junggesellen Morales anzulasten, der mit ihr einst ein intimes Verhältnis hatte. Die Dame soll dem Präsidenten die Begünstigung des chinesischen Unternehmens CAMC abgeluchst haben, das de facto der bolivianischen Republik hohe Vertragsstrafen schuldet. Trotz aller Plumpheit dürfte die Mär so manche naive Wählerin vergrämt haben. Sie wird von der Opposition weitergesponnen, um die kriminellen Tricks der US-Marionette zu übertünchen, die deswegen jetzt vor Gericht steht.

Die Leute vom bolivianischen Movimiento al Socialismo (Bewegung zum Sozialismus) wissen, dass die jungen Strukturen des Landes personalisierte Kontinuität brauchen, auch über das Jahr 2020 hinaus. Der fatale Wechsel von Hugo Chávez Frias zum biederen Nicolás Maduro in Venezuela oder von Luiz Inácio Lula da Silva zur tugendhaften Technokratin Dilma Rousseff in Brasilien bestätigt die Notwendigkeit von Charisma und emotionaler Korrelation zwischen Wählern und Gewählten.

Die Bolivianer finden sich wieder in dem ehemals chancenlosen Hütejungen aus den Bergen. Und der „ist kein Machtmensch, eher ein Geschenk von Pachamama“ (Mutter Erde), meinte einer auf dem Kantuta-Platz.

Evo Morales bleibt gelassen: „Wir haben eine kleine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg, ... der Kampf geht weiter” (teleSUR, 24.2.16). Seine jüngste Zustimmungsquote (8.3.16) liegt mit 58 Prozent (La Paz 68 Prozent) weit über dem Ergebnis des Referendums.


Der Beitrag erschien in Ossietzky, Zweiwochenschrift für Politik Kultur und Wirtschaft, Heft 7/2016


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Wolf Gauer:

Menetekel - Wahlen in Südamerika


Die gute Nachricht: Es wurde fair gewählt, transparent und streng nach den Regeln. Im dritt- und im fünftgrößten Land Südamerikas, in Argentinien (43 Mio.) am 25.10. bzw. 23.11., und in Venezuela (29 Mio.) am 6.12. Vor allem ohne die polizeilichen Übergriffe, die sich Caren Miosga als optische Kulisse beim Herbeten der Tagesschau-Desinformation über Venezuela aus dem Archiv geholt hatte. Wenn schon Jeb Bush US-Präsidentschaftswahlen fälscht, dann hat es bei den linken Latinos da unten gefälligst noch krasser zuzugehen.

Die ungute Nachricht: Im argentinischen Präsidentschaftsduell verpasste Daniel Scioli, Kandidat der scheidenden Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner, um 2,7 Prozent die Weiterführung des links-peronistischen „kirchnerismo“. Und bei den venezolanischen Parlamentswahlen erreichte die sozialistische PSVU von Hugo Chávez’ Nachfolger Nicolás Maduro Moros nur 55 von 167 Sitzen.

Venezuela:

Präsident Maduro steht einem Staatswesen vor, das außergewöhnliche Sozialleistungen aufrecht erhält, dessen Wirtschaft aber nach wie vor zu 70% Prozent in Privathand ist. Nach chavistischer Tradition finanzieren deshalb die Erträge der staatlichen Erdölindustrie den Wohnungsbau, das Gesundheits-, Bildungs- und Verkehrswesen und andere soziale Zwecke, die etwa 40 Prozent des Haushalts beanspruchen. Das gegen Russland, Iran und Venezuela gerichtete Ölpreis-Dumping der Saudi-gesteuerten OPEC verknappte aber den Deviseneingang derart, dass selbst die weitere Erschließung der – weltgrößten – Ölreserven des Landes gebremst wurde. US-amerikanische „Sanktionen“ taten ein Übriges. Auch Venezuelas Sozialisierung der Erdölprodukte: Venezolaner zahlen nur etwa 2 Cent für einen Liter Benzin. Gemessen am internationalen Durchschnittspreis entgehen dem Staat damit jährlich mindestens 8 Mrd. US$, immerhin 2,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Die resultierende Devisenbewirtschaftung, die Engpässe auf dem Verbrauchermarkt und zunehmende Inflation verbitterten selbst treue chavistische Wähler, die übrigens in ihren kommunalen Gliederungen die Verwendung öffentlicher Gelder mitbestimmen.

Die Opposition stimulierte und instrumentalisierte die Krisenstimmung, die sie selbst - in stetiger Absprache mit den USA – verschärft hatte, u.a. mittels Sabotageakten und Zurückhaltung von Konsumwaren. Ihr anti-chavistisches Wahlbündnis MUD (Mesa de la Unidad Democrática, Tischrunde der demokratischen Einheit) besteht jedoch aus 14 eher heterogene Parteien: darunter die traditionelle Bourgeoisie, Sozialdemokraten und die breite Klientel der US-hörigen, neoliberalen Drahtzieher Henrique Capriles und Leopoldo López. Letzterer in Haft wegen Anzettelns gewaltsamer Ausschreitungen mit 40 Todesopfern.

Dennoch überraschte die Zweidrittelmehrheit des MUD-Bündnisses. Denkbar schlechte Aussichten für die weitere Amtszeit (bis 2019) des biederen, farblosen und gemessen an Hugo Chávez garantiert charismafreien Nicolás Maduro. Trotz der in der MUD-Runde zu erwartenden Zwietracht wird er sich der kriminellen Energie eines Henrique Capriles Radonski stellen müssen. Dem Oppositionsführer und Gouverneur des Bundesstaats Miranda, dem Chávez schon 2012 gesagt hatte: „Du bist der Kandidat der Yankees, der Kandidat des Imperialismus, der Kandidat der Staatsstreiche der Bourgeoisie, der Kandidat der Vergangenheit” (Hintergrund, 13.10.12). Der Mann des Putschs von 2002, der den staatlichen Erdölkonzern PDVSA privatisieren möchte und der nun begriffen hat, dass er einen „regime change“ ganz legal erreichen kann – dank der soliden demokratischen Institutionen der vielgeschmähten bolivarischen „Diktatur“. Die hochangesehene kolumbianische Menschenrechtlerin Piedad Córdoba versichert, dass sich der Chavismus als „dynamische Kraft immer neu beleben und auch wieder die Mehrheit im Parlament stellen wird.“ (TVN Noticias, 7.12.15). Und ein französischer Beobachter fragt: „Warum war Caracas am Tag nach der Wahl so traurig? Warum hat ein solcher Sieg nicht den geringsten Jubel in der U-Bahn, auf den Straßen ausgelöst?“ (Le Grand Soir, 10.12.15). Vermutlich in Vorahnung dessen, was den Armen des Landes bevorsteht.

Argentinien:

Nach langem Zusammenwirken mit der US-amerikanischen Botschaft in Buenos Aires schaffte Mauricio Macri, Kandidat des ultra-liberalen Wahlbündnisses Cambiemos (sinng.: Wir wollen verändern), Ex-Boss des Fußballclubs Boca Juniors, Baulöwe, US-geschulter Banker (City Bank) und Bürgermeister von Buenos Aires, den regime-change. Mit gerade 2,7 Punkten Vorsprung eine radikale Abkehr vom „kirchnerismo“ der Präsidenten Nestor Kirchner (2003-2007) und Cristina Fernández de Kirchner (2007 – 2015). In den Vorjahren hatte Macri Washington wiederholt gedrängt, sich „kritischer“ gegenüber Argentinien zu positionieren (obwohl Hillary Clinton die argentinische Präsidentin längst als geisteskrank verdächtigt hatte).

Wen wundert’s? Das Ehepaar Kirchner führte Argentinien aus dem wirtschaftlichen Chaos von 2002. Mit besonderem Augenmerk auf die arbeitenden Klassen, auf die Wiederherstellung von Arbeitsrecht, Sozialversicherung, der mittelständischen Betriebe und der Versorgung des Binnenmarktes. Auch in Zusammenarbeit mit den gewerkschaftlichen, sozialistischen und kommunistischen Kräften und stets gegen den Widerstand der traditionellen und nur auf Export gepolten Agrarmonopolisten und ihrer allmächtigen Medien. Trotz Dauerfeuers des Medienmonopolisten Grupo Clarín, trotz wirtschaftlicher Stagnation und einer Inflation von 12 Prozent konnte Cristina Kirchner ihre zweite Amtszeit mit der respektablen Zustimmungsquote von 54 Prozent beenden. Unvergessen bleibt ihr Widerstand gegen die Machenschaften anglo-amerikanischer Geier-Fonds bei der Regelung der argentinischen Auslandsverschuldung, unvergessen ihre Solidarität mit Hugo Chávez, Evo Morales, Lula da Silva und anderen „linken“ Symbolfiguren sozialer Priorität und lateinamerikanischer Integration. „La Jefa no se va“ (sinng.: „Die Chefin darf nicht gehen“) skandierten Minderprivilegierte bei Kirchners Verabschiedung. 2019 könnte sie neuerlich gegen Macri antreten, den „Mann des Marktes“ (Macri), der alten Oligopole und der Wall Street. Julian Assange „leakte“ 2011 die US-amerikanischen Belege für Macris Konnex mit dem Imperium (ArgenLeaks, hg. Santiago O’Donnell, Buenos Aires, 2011).

Macris erste präsidentielle Amtshandlungen waren sein Rapport in der US-Botschaft am Tag nach der Wahl, danach die Aufhebung der Ausfuhrzölle für Soja- und Fleischprodukte, die die Binnenversorgung und erschwingliche Nahrungsmittelpreise garantierten. Er kündigte weiterhin die Abwertung des argentinischen Peso an (d.h. verminderte Kaufkraft der Konsumenten), die „Flexibilisierung“ des Arbeitsrechts, die Aufhebung der Devisenbeschränkung und der Kontrolle der Medienmonopole. Grupo Clarín könnte somit neuerlich sein hauseigenes Papiermonopol gegen schwächere Zeitungs-Verlage ausspielen. Erste Demonstrationen gegen Macris personal- und wirtschaftspolitische Entscheidungen und seine Hinwendung zum Internationalen Währungsfonds (IWF) wurden von der Polizei brutal niedergeschlagen. Im Parlament, in den peronistischen Provinzregierungen und im Justizapparat formiert sich Widerstand.

Brasilien und der Subkontinent:

Luiz Inácio Lula da Silva, zweimaliger Präsident Brasiliens (2003-2011) und

Mitbegründer der Arbeiterpartei (PT) stellte am 11.11.15 fest „es riecht nach Rückschritt“ in Südamerika (Folha de São Paulo). Längst besitzt das reiche eine Prozent der Südamerikaner 41 Prozent allen dortigen Vermögens. Die beispiellose, auf Amtsenthebung abzielende Medienkampagne gegen Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff – Ähnliches wird Präsident Maduro bevorstehen - hat sich Ende Dezember teilweise auf deren politische rechts-sozialdemokratische Urheber eingeschossen, insbesondere auf den hochgradiger Korruption überführten, aber vorläufig noch immunen Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Eduardo Cunha (s. Ossietzky, 17/2015). Das Oberste Bundesgericht bremste Cunhas verfassungswidrige Winkelzüge zur Erzwingung eines Sturzes der Präsidentin, die Bundespolizei durchsuchte seine Büros. Die Bevölkerung geht wieder mehrheitlich für „Dilma“ auf die Straße, selbstverständlich ignoriert von ARD und ZDF.

In Brasilien lebt die Hälfte aller Südamerikaner. Nach dem „Rückschritt“ (Lula) in Venezuela und Argentinien und nach der Eingemeindung Perus und Chiles in die US-kontrollierte Transpazifische Partnerschaft TPP (Gegenstück des atlantischen TTIP) ist Brasiliens politische Kontinuität Voraussetzung für den Erhalt der supranationalen Institutionen Lateinamerikas und dessen weitere Integration. Nicht zuletzt - und trotz aller Schwächen der neunfach koalierten Regierung Rousseffs – auch für die globale Gewichtung der BRICS-Staaten und eine zumindest relative Unabhängigkeit vom US-amerikanischen Imperialismus.

Der Beitrag erschien in Heft 1/16 von Ossietzky, Zweiwochenschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft.

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Statt eines Nachrufs

Wolf Gauer

Das Medien-Getue um Sarkozys Vorzeigedenker, der drei Tage vor den Pariser Attentaten verschieden ist, wurde inzwischen von deren Echo übergletschert. Es verdient dennoch kritische Erwähnung, da der „unerträgliche Philosoph und Essayist, Kriegsbefürworter und ehemalige Maoist André Glucksmann, Ausgeburt reaktionärer Subjektivität“ – so die britische Philosophin und Autorin de Guardian Nina Power – ursächlich mit Europas Misere, 50 Jahre nach 68 (und 226 nach 1789), verbunden ist.

Unsere US-frommen Staatszwerge weihräucherten mit den Mainstream-Medien um die Wette: „Ein Verteidiger der Unterdrückten. Er habe sich immer für das Leiden der Völker eingesetzt, teilte Hollande über Twitter mit. Er habe vor der Fatalität der Kriege nicht resigniert.“ (Kleine Zeitung, 10.11.15). Nun, wer wird schon vor der „Fatalität“ resignieren, die er zusammen mit Gesinnungsgenossen wie Daniel Cohn-Bendit, Bernard-Henri Lévy und anderen Ex-Achtundsechzigern, den „Neuen Philosophen“, nach Kräften gefördert hat?

Er [Glucksmann] hat geglaubt, Sarkozy könnte es bringen. Und als Sarkozy sich Putin angenähert hat, hat er sich gegen Sarkozy gewendet“, so Cohn-Bendit auf Bild-Niveau in Deutschlandradio (10.11.15). Die Neuen Philosophen aber „brachten es“, das relativierende Salongeschwätz und die intellektuelle Tünche für das durchgehend pervertierte, gedankenfeindliche Welt- und Menschenbild unserer Wertegemeinschaft und seine Folgen nicht nur in Syrien, Irak und Paris.

Für André Glucksmann war schon der Anschlag auf Charlie Hebdo nicht Resultat der rassistischen Mohammed-Schmähungen des Provo-Blättchens (im Besitz des Barons Édouard de Rothschild), sondern das „allgemeine Problem des Islamismus in Frankreich“ (Die Welt, 9.1.15). Pegida nickt kollektiv und solidarisch. Hätte er den 13.11. noch erleben dürfen, wäre der Philosoph wohl um neuerlich gefällige Ursachenfälschung nicht verlegen.. Sein wenig älterer Zeitgenosse Gilles Deleuze (Kapitalismus und Schizophrenie, 1977), hielt schon vor langen Jahren vom servilen Medienwirbel der „nouveaux philosophes“ schlicht „nichts. Ich glaube ihr Denken ist nichtig (...), Autoren, die nicht mehr drauf haben als die Frechheit von Domestiken oder den Klamauk des Clowns vom Dienst“ (Minuit, 5/1977).

Der Text erschien in Ossietzky, Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft.


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Wolf Gauer 

Der große Happen


Während ich dies schreibe, lärmt ringsum wieder einmal das Protestritual des satten brasilianischen Bürgertums, der „panelaço“: Man schleppt sich nach dem Dinner auf den Balkon und klappert mit Töpfen, die ansonsten nur das Personal in die Hände kriegt. Vorzugsweise dann, wenn sich Präsidentin Dilma Vana Rousseff im Fernsehen an die Nation wendet. Brasiliens Begüterte wollen nicht, was Rousseff will. Sie wollen keinen sozialen Ausgleich, keine Landreform, keine Armen im Flugzeug, keine Schwarzen in der Universität. Sie wollen den alten Staat der „Eliten“, der ihre Privilegien verwaltet. Nicht den der Arbeiterpartei, der in zwölf Jahren 70 der 200 Millionen Brasilianer ein Bankkonto verschafft hat. Sie verzeihen Rousseffs knappen Wahlsieg im Oktober 2014 so wenig wie die New York Times oder die deutschen Parteistiftungen.

Was schert die Töpfetrommler die so mühsam nach der Militärdiktatur (1964–1985) eingeübte Demokratie und die trotz vieler Mängel beachtliche soziale Besserung? Brasiliens Eintreten für den „Mercosur“, für Solidarität mit Kuba und Venezuela, für die lateinamerikanische Integration und für eine grundsätzlich multipolare Weltordnung? Vergessen wir nicht: Das infantile Blechgebimmel wurde von chilenischen Großagrariern aufgebracht und läutete ab 1971 den blutigen Coup des Kissinger-Pinochet-Faschismus gegen die gewählte sozialistische Regierung Allende ein, später auch die US-gesponserten Putschversuche gegen Präsident Hugo Chávez Frías in Venezuela.

Tod für Lula“

Im Schatten der NATO-Kriegstreiberei in Europa erlebt Brasilien eine völlig neue, deutlich maidan-mäßig synchronisierte Hasskampagne einschließlich erster tätlicher Ausschreitungen und Rechtsbeugungen. Sie richten sich gegen die Präsidentin, gegen ihren Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva, gegen die Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) und gegen unbequeme Linke aller Couleur. „Ein Phänomen“, wie selbst der frühere, rechtslastige Wirtschaftsminister Luiz Carlos Bresser Pereira zugibt, „das ich nie in Brasilien gesehen habe. Ein plötzlicher, kollektiver Hass der Oberschicht, der Reichen, auf eine Partei und eine Präsidentin. Nicht Besorgnis oder Angst, sondern Hass. Hass, weil da zum ersten Mal eine Mitte-links-Regierung ist, die auch links geblieben ist. Sie hat Kompromisse gemacht, sich aber nicht ausgeliefert [...]. Hass, weil die Regierung eine starke und klare Präferenz für die Arbeiter und die Armen gezeigt hat.“ (Folha de São Paulo, 1.3.15, Übs. u. alle ff.: WG).

Obwohl auch Brasiliens Konjunktur schwächelt, ist die Beschäftigungslage immer noch gut und die Konsumversorgung die beste meiner bislang 41 Jahre in Brasilien. Trotz der Blockierung aller sozial fortschrittlichen Gesetzesvorlagen durch die Oppositionsparteien und trotz der erwähnten Kompromisse mit den Rechtskonservativen. Ex-Präsident Lula konnte diesen am 1. Mai wahrheitsgemäß vorhalten: „Niemals haben Industrie und Banken so gut verdient wie in den Jahren der PT-Regierung.“

Dennoch durchlöcherte am 30. Juli ein Sprengkörper das Tor seines „Instituto Lula“, das sich für soziale Inklusion in Lateinamerika und Afrika einsetzt. Indessen versuchen Länderstaatsanwaltschaften, Bundesrichter, Bundespolizei und der Bundesrechnungshof Lula und Rousseff persönlich mit den Korruptionsvorwürfen um den halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras in Verbindung zu bringen. Und die Hetztruppe „Morte ao Lula“ („Tod für Lula“, 4000 Mitglieder) kann auf Googles Facebook ungehindert zu Gewalt und Mord motivieren. „Warum haben sie dich nicht aufgehängt?“ fragen Transparente in Anspielung auf die Folterungen der jungen Dilma Rousseff während der Militärdiktatur.


Coup der Konzernmedien

Die Präsidentin ist weitgehend entmachtet, ihre parlamentarische Unterstützung dahin. Ihre Neun-Parteien-Koalition („Kraft des Volkes“) vom Oktober 2014 zerbröselt. Teils wegen des zunehmend kapitalorientierten, technokratischen Kurses ihrer Regierung, teils aus pragmatischem, medial verwertbarem Ärger über die Rückfälle einiger PT-Kader in die traditionelle Korruptionskultur, ironischerweise aber aufgedeckt vom Justizapparat der PT-Regierung. Die Schuldigen wurden verurteilt und sitzen in Haft – ein Novum.

Die großen rechts-sozialdemokratischen Oppositionsparteien PMDB und PSDB bestimmen heute die parlamentarische Szene. Ihr zentraler und hysterisch nachgebeteter Vorwurf der „Korruption“ hinderte sie selbst nicht daran, am 27. Mai ungeniert die Wahlkampffinanzierung durch Unternehmerspenden zu legalisieren. Eine unflätige und nur mit deutschen Verhältnissen vergleichbare Medienkampagne gibt Rückenwind. Etwa fünf bourgeoise Familienkonzerne bestimmen, was die Brasilianer zu denken haben. Rezept: täglich drei diskreditierende Nachrichten über Rousseff, Lula und PT, je eine über China und Wladimir Putin. Folglich lehnen 71 Prozent der Bevölkerung die Präsidentin ab – laut Befragung durch Institute derselben Medienzaren. Der spanische Medienwissenschaftler Ignacio Ramonet stuft die „mediale Schlacht“, den „Medien-Coup“, als wichtigstes Kennzeichen der aktuellen lateinamerikanischen Auseinandersetzungen ein. Private Medienkonzerne übernehmen die Funktion der rechtskonservativen Parteien, sobald es gegen die Linke geht.


Zermürbung der Präsidentin

Der gegenwärtige Präsident der Abgeordnetenkammer Eduardo Cunha (PMDB) koordiniert und fanatisiert Rousseffs parlamentarische Demontage, die auf Amtsenthebung beziehungsweise Selbstaufgabe abzielt. Er kommt aus dem äußerst berüchtigten Dunstkreis des ehemaligen Präsidenten Fernando Collor, der 1992 wegen Korruption und einer Rekordinflation von 1200 Prozent zurücktreten musste. Cunha setzte danach auf die wachsende parlamentarische Präsenz der einflussreichen evangelikalen Sekten Brasiliens und vertritt heute deren machtpolitische und finanzielle Interessen. Wegen passiver Bestechung in Höhe von mindestens fünf Millionen US-Dollar wackelt sein Stuhl, der Bundesanwalt plädiert auf 180 Jahre Haft. Im Gegenzug bedroht Cunha die Präsidentin damit, dass er jederzeit elf Amtsenthebungs-Anträge seiner Gesinnungsgenossen auf die Tagesordnung setzen könne, sollte man ihm auf die Pelle rücken. Er ist niveautypisch für den mittlerweile sozialdemokratisch beherrschten Kongress. Hinter Rousseff stehen lediglich noch die kommunistische PCdoB (357000 Mitglieder), die sozialistische PSB und die traditionelle Arbeiterpartei PDT, der Dilma Rousseff selbst entstammt.

Frei Betto (Bruder Betto), Dominikaner und Befreiungstheologe, Weggefährte und Berater von Fidel Castro und Ex-Präsident Lula, glaubt angesichts des Drohszenarios nicht an ein Amtsenthebungsverfahren: „Es gibt kein Motiv dafür [...]. Selbst wenn Dilma persönlich weitere drei Jahre aushalten würde, fürchte ich eher, dass sie aufgibt“ (Brasil 247,10.8.15). Folgerichtig konzentriert die Rechte ihr Feuer zunehmend auf den proletarischen Altpräsidenten Lula. Er nämlich könnte 2018 wieder zur Wahl antreten, und seine Wähler sind die „70 Millionen“, die nicht vergessen haben, wer ihnen einen Vorschuss auf Umverteilung und gesellschaftliche Inklusion ermöglicht hat.


Washingtons langer Arm

Nicht alle Fäden werden in Brasilien gesponnen. Eine Senatskommission unter Führung von Rousseffs Wahlgegner Aécio Neves (PSDB) reiste im Juni nach Venezuela, um sich mit den politischen „Opfern“ der Regierung Maduro zu solidarisieren. Wasserträger der USA, die sich sowohl in Washington als auch in der EU profilieren wollen. Der kühle, aber korrekte Empfang in Venezuela geriet in den „atlantischen“ Medien zu einer Bedrohung von Leib und Leben: „Brazil senators flee Venezuela attack” (Brasilianische Senatoren flüchten vor venezolanischer Attacke, BBC, 19.6.15).

Seit dem Zweiten Weltkrieg versuchen US-amerikanische Politiker und regierungsnahe Institutionen, Brasilien als „Schurkenstaat“ mit nuklearen Ambitionen zu etikettieren. Sie können dabei auf hiesige Sympathisanten zählen, laut Insidern auch in den drei Gewalten: Am 28. Juli erfolgte überraschend die Inhaftierung des Vizeadmirals a.D., Ingenieurs und Wissenschaftlers Othon Luiz Pinheiro da Silva (76). Dem mittlerweile pensionierten Militär und nur noch privatwirtschaftlich tätigen Wissenschaftler und Energiemanager wird Korruption vorgeworfen, der Erhalt von 4,5 Millionen US-Dollar vonseiten eines bekannt „generösen“ Baukonzerns. Ein Vorwurf, dessen Klärung andere Beschuldigte in Freiheit abwarten können. Da Silva ist immerhin eine Symbolgestalt brasilianischer Eigenständigkeit und Selbstachtung, kein Joseph Blatter, seine Inhaftierung eine offene Machtdemonstration gegenüber Brasiliens linker, US-kritischer Regierung. Er dirigierte seit 1978 mit viel Geschick und Beharrlichkeit die autonome Nuklearforschung des Landes, die nicht auf die Bombe abzielt, sondern auf den Bau nuklearer U-Boot-Antriebe und Kleinkraftwerke. Gegen den ständigen Widerstand der USA und mit bemerkenswerten technischen Lösungen, vor allem beim Bau neuartiger Zentrifugen zur Urananreicherung. Da Silva hatte die besondere Unterstützung von Präsident Lula, der dagegen US-amerikanische Pläne einer Raketenabschussbasis im Staat Maranhão und eines Marinestützpunkts in Rio de Janeiro abgelehnt hatte. Die New York Times bejubelt die Festnahme „of that figure“ und verleumdet den Admiral als „Vordenker“ eines „geheimen nuklearen Militärprogramms in den 70er und 80er Jahren“ (NYT, 28.7.15).

Admiral da Silvas Inhaftierung erinnert an die Anfänge der brasilianischen Nukleartechnologie in den 1950er Jahren, die sich auf die reichhaltigen Thoriumvorkommen in Amazonien stützte. Brasilien hatte damals in der (noch weniger als heute souveränen) BRD erste Zentrifugen geordert, die bei der Verladung in Göttingen und Hamburg von den Alliierten beschlagnahmt wurden. Der damals federführende Wissenschaftler Álvaro Alberto, ebenfalls Admiral, wurde auf US-Druck gezwungen, das eigenständige und wissenschaftlich brillante Nuklearprogramm Brasiliens einzustellen.

Admiral da Silvas Verhaftung ist auch deshalb brisant, weil er energisch den Bau der von Siemens/KWU und Areva/AN gelieferten Kernkraftwerke Angra II und Angra III vorangetrieben hatte. Angra I war dagegen noch aus den USA bezogen worden. Sein tatsächliches Verbrechen ist, dass er, obwohl Absolvent des elitären US-amerikanischen Technologieinstituts MIT, nicht vor dem Imperium kuschte.

Brasilien ist der ganz große Happen, der längst wegen seiner BRICS-Zugehörigkeit, wegen seiner enormen Reserven an Agrarfläche, Süßwasser, Sonneneinstrahlung, Öl, Mineralien und Arbeitskraft auf der imperialen Abschussliste steht. Die innenpolitische Krise, die Gewissenlosigkeit und politische Unbildung breiter, ökonomisch saturierter Wählerkreise und ihrer parlamentarischen Vertreter, animieren zum Komplott von rechts. Erste landesweite Demonstrationen wenden sich aber inzwischen dagegen. Rund 200000 Menschen skandierten am 20. August „es gibt keinen Coup“, „Cunha raus“ und „Dilma bleibt“. Sie repräsentieren das Volk: 24 Prozent mit einem Einkommen unter 500 und 5 Prozent über 5000 Euro, insgesamt 49 Prozent afrobrasilianischen Ursprungs.

Sollte die brasilianische Linke dennoch scheitern, ist ganz Lateinamerika binnen kurzem wieder Hinterhof der USA. Das BRICS-Bündnis verlöre seinen einzigen Partner in dieser Hemisphäre und der ärmere Teil der Welt einen unersetzlichen Helfer und Hoffnungsträger.

Erschienen in Ossietzky, Zweiwochenschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft, Heft 17/2015



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Wolf Gauer

Zufälligkeiten


Am 13. April verstarben die Schriftsteller Günter Grass und Eduardo Galeano, Grass in Lübeck, Galeano in Montevideo. In der BRD nationaler Medien-Hype und plumpe Nekrologe für Grass (Kulturstaatsministerin Monika Grütters: „gleich neben Goethe“), in ganz Lateinamerika Tränen und ungeschminkte Trauer um Galeano. Nobelpreisträger Grass schrieb fürs bürgerliche Publikum, Galeano war diesem ein Ärgernis. Grass-Lesern wird Galeano schwerlich fehlen, und Galeanos lateinamerikanische Leserschaft braucht keinen Günter Grass. Sie braucht Galeano; wir werden sehen warum.

Eduardo Germán Hughes Galeano (*1940) kam aus „guter Familie“, zog es aber vor, eigenen Impulsen zu folgen, unter anderem als Arbeiter, Schildermaler, Laufjunge, Drucker und Karikaturist. Seine sozialen Tauchversuche führten zur sozialistisch-pazifistischen Leitlinie eines Gesamtwerks von mehr als 40 Titeln. Frei vom Opportunismus des Literaturbetriebs, frei von sozialdemokratischem Flirt mit der Macht. Die Laudatio anläßlich der Verleihung (2010) des Stig-Dagerman-Preises (ja, es gibt in Schweden auch ernstzunehmende Literaturpreise) ehrte Galeano als „ständig und unerschütterlich an der Seite der Verdammten“, als einen, der „sie anhört und ihr Zeugnis mittels Poesie, Journalismus, Prosa und Aktivität vermittelt“ (El Universal, 12.9.10, Übs. hier und alle ff. W.G.). Doch erst die Universität von Havanna benannte Galeanos ureigenste Bedeutung als „Wiederhersteller des wirklichen kollektiven Gedächtnisses Südamerikas und Chronist seiner Zeit“ (Carta Maior, 25.4.15) und machte ihn zum Ehrendoktor (2001). Zahlreiche ähnliche Ehrungen sollten folgen.

Galeanos Analyse der ökonomischen und kulturellen Abhängigkeiten Lateinamerikas anhand der tatsächlichen historischen Verläufe hat das vom Imperialismus eingeimpfte Geschichtsbild seiner Menschen korrigiert und damit die Grundlage für legitime lateinamerikanische Bewußtseinsbildung geschaffen. Knapp und lakonisch vorgetragen in seinem weltweit anerkannten Hauptwerk „Die offenen Adern Lateinamerikas“ (1971). Schon der erste Satz gibt den Duktus der konsequent materialistischen Geschichtsentwirrung vor: „Die internationale Arbeitsteilung besteht darin, daß die einen Länder sich aufs Gewinnen spezialisieren, die anderen aufs Verlieren. Unser Stück Welt, das wir heute Lateinamerika nennen, war frühreif: Es spezialisierte sich schon aufs Verlieren seit jenen alten Zeiten, da die Europäer der Renaissance über die Meere schaukelten und ihm die Zähne in den Hals gruben“ („Las Venas Abiertas de América Latina“, Coyoacán 2004).

„Unserem Stück Welt“ lieferte der (alsbald verbotene) Text Fakten und Daten für das revolutionäre Umdenken der Generation Galeano bis hinein in die pastoralen Basisgemeinden. Und zwar derart schlüssig, daß die Rechte um jede soziologische und moralische Apologie verlegen war. José Alberto Mujica Cordano, damals Mitglied der Tupamaro-Befreiungsfront (15 Jahre im Gefängnis) und Alt-Präsident Uruguays: „Galeano hat uns unsere Würde in Lateinamerika zurückgegeben“ (República, 25.4.15). Silvino Heck, Vertreter der Befreiungstheologie, heute Berater der Präsidentin Brasiliens: „Wir hatten nun eine zweite Bibel unterm Arm. Neben dem alten und dem neuen Testament die ‚Offenen Ader’“ (Adital, 17.04.15). Und der Kommentar eines Lesers, der für Millionen steht: „Die ‚Offenen Adern Lateinamerikas‘ zeigten mir, wie ich wieder Gefallen an uns selbst finden kann“ (Carta Maior, 13.4.15). Die heutigen Institutionen lateinamerikanischer Integration und Solidarität (Mercosur, ALBA, Unasur, CELAC u.a.) sind ohne Galeanos fundamentale Vorarbeit undenkbar, sie wurden von seiner Generation, von seinen Lesern, geschaffen.

Seine weiteren Arbeiten vertieften den Prozeß der lateinamerikanischen Selbstfindung. Hervorgehoben sei die im Exil entstandene Trilogie „Erinnerungen an das Feuer“ (1982–86) in der für das spätere Werk typischen Mischtechnik aus Poesie, Dokumentation, Beschreibung und Interpretation. Trotz thematischer Überschneidungen mit den Zeitgenossen Gabriel García Márquez (Kolumbien, 1927–2014) und Carlos Fuentes (Mexiko, 1928–2012) ist die heutige Konstitution lateinamerikanischer Identität und Solidarität ihrem Mitstreiter aus Uruguay zu verdanken.

Galeano hat Lateinamerika in einer kritischen Phase verlassen. Das US-Imperium kämpft um verlorenes Terrain. In Venezuela, Brasilien und Argentinien wird die Maidanisierung geprobt, Kubas weiterer Weg ist in Frage gestellt. „Wir sind alle lateinamerikanische Brüder“, sagte mir ein indigener Bergmann in den Anden; ähnlich drückten sich auch ein Taxifahrer in Buenos Aires und ein peruanischer Fischer in Amazonien aus. Eduardo Galeano bleibt uns erhalten.


Erschienen in Ossietzky, Zweiwochenschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft

Heft 10/2015





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DIE USA UND LATEINAMERIKA


von Wolf Gauer*

Ein Thema mit Variationen – endlos und trostlos. Wo anfangen? Bei der fragwürdigen Lächeloffensive Obamas gegenüber Kuba oder doch eher mit einem Rückblick auf längst Vergessenes und Verschwiegenes? Denn nach der Emanzipation von den europäischen Kolonisatoren ist die Geschichte der lateinamerikanischen Nationen durchgehend gezeichnet vom Hegemonie-streben der USA. Von deren Einmischung in die Konsolidierung der jungen Staaten, von Indoktrination, kultureller Demontage, Ausbeutung, Chaotisierung, Krieg, Invasion oder Blockade – die bekannte, bis heute gängige Praxis. Sie spiegelt den Werdegang der US-amerikanischen Nation, ihr eigenes, gnadenloses „making of a nation“ auf fremdem Boden.

Der amerikanische Doppelkontinent (43 Millionen Quadratkilometer) beherbergt rund 930 Millionen Menschen. Ein knappes Viertel seiner Fläche haben die USA an sich gebracht, in kaum 200 Jahren. Ihre Bürger (319 Millionen) sprechen von ihrem Land als „Amerika“ und von sich selbst als den „Amerikanern“. Sie verbrauchen jährlich ein Fünftel der Primärenergie unseres Planeten, das heißt pro Kopf siebenmal mehr als die ungeliebten „Latinos“ aus Mittel- und Südamerika. Denken sie an Ressourcen, so denken sie grenzenlos – an die ganze Hemisphäre.

1910, vier Jahre vor der Fertigstellung des »Panamakanals – die USA hatten dazu Kolumbien den Isthmus von Panama entrissen und darauf den Staat gleichen Namens gegründet – erklärte US-Präsident William H. Taft: 

„Der Tag ist nicht mehr fern, wo das Sternenbanner an drei ... Punkten unser Territorium markieren wird. Am Nordpol, am Panamakanal und am Südpol. Die ganze Hemisphäre wird unser sein, so wie sie uns ja schon moralisch gehört dank unserer Überlegenheit der Rasse“ 
Noam Chomsky, „Year 501“, London 1993 PDF, 329 Seiten, 1,6MB).

Die Landnahmen nach dem spanisch-amerikanischen Krieg (1898), darunter Kuba, Puerto Rico und die Philippinen, hatten schon 1901 den Schriftsteller Mark Twain bewogen, sich der »Anti-Imperialist League anzuschließen. Ein US-Kolonialreich erschien ihm unvereinbar mit Thomas Jeffersons Unabhängigkeitserklärung (1776) und der Fackelschwenkerin im New Yorker Hafen. Da waren 200.000 Tote allein auf den Philippinen, die Halbierung Mexikos, die Genozide an der Urbevölkerung und anderes mehr. Schon 1920 gab die Liga auf. Die Wall Street dekretierte längst die „national purposes“ (nationale Zwecke). 1925 diesen: 

„Es gibt weltweit kein besseres Terrain zur Exploration als Brasilien.“ 
(Wall Street Journal)

Bleiben wir beim Beispiel des demographisch zweit- und geographisch drittgrößten Landes der Hemisphäre, dessen Wirtschaftsleistung weltweit Platz sieben einnimmt: Brasilien gilt als Schlüssel zu Südamerika. Es verfügt über die bedeutendsten Reserven an Agrarflächen, Süßwasser, Zellulose, Erzen, Bauxit, an strategisch wichtigem Niobium, Mangan, Kobalt und Thorium, an erneuerbarer und fossiler Energie und anderen guten Dingen, deren Bedeutung Henry Kissinger 1979 als Repräsentant von David Rockefellers Trilateraler Kommission hervorhob: 

„Die Industrieländer werden nicht in derselben Weise leben können wie bisher, wenn sie nicht über die nicht-erneuerbaren Ressourcen des Planeten verfügen. Deshalb müssen sie feinere und wirksamere Pressions- und Zwangssysteme ausarbeiten, die das Erreichen ihrer Ziele garantieren.“ 
(Notícias Militares, 12.1.2012). 
Kissingers „Systeme“ waren längst weltweit erprobte US-Praxis, die Tricks und Verbrechen der selbsternannten Führungsnation.

Brasilien suchte schon 1786 Kontakt zu der jungen nordamerikanischen Republik. Animiert von deren Gelingen, bat ein empörter Aufklärerzirkel der von Portugal extrem geschröpften Goldprovinz Minas Gerais Präsident Jefferson um Rat und Waffen (gegen Vergütung). Jefferson sagte ab, wegen der vorteilhaften Handelsverträge seiner allerfreiheitlichsten Republik mit dem absolutistischen Unterdrücker Portugal. Die Erhebung des 21. April 1789, die „Inconfidência Mineira“ (Treubruch von Minas) scheiterte mangels Know-how, inspirierte aber Brasiliens eigenen Weg zur Unabhängigkeit (1822). Ohne Hilfe aus dem Norden und noch vor Präsident James Monroes Doktrin „Amerika für die Amerikaner“ (1823), die man alsbald als „Amerika für die Nordamerikaner“ begreifen sollte.


Erst 1824 erkannten die Vereinigten Staaten die Unabhängigkeit des nunmehrigen Kaiserreichs Brasilien an. Ihr erster Botschafter, der Banker Condy Raguet, gab 1826 die bis heute gültige, sendungsbewusste präpotente Tonart vor: 

„Es ist nun an der Zeit, dass wir die [brasilianische] Regierung den Einfluss fühlen lassen, zu dessen Erhaltung wir in dieser Hemisphäre der Freiheit bestimmt sind.“ 
(Bianca C. Pazinatto et.al.: „Relações entre Brasil e Estados Unidos no Século XIX”, Curitiba s. a.). 

Es setzte diplomatische Provokationen, bewaffnete Übergriffe auf See und in den Handelshäfen – Piraterie gehört zum britischen Erbe –, erpresserische Kriegsdrohungen und erste unverblümte Ansprüche auf das »Amazonasbecken. Auf dessen Öffnung, auf territoriale Teilhabe und Internationalisierung des ganzen Flusssystems. Nordamerikanische „Siedler“ wurden infiltriert, lokale Indigene gegen die Zentralregierung aufgehetzt: die Taktik der heutigen „Entwicklungshelfer“ von »USAID und anderen US-finanzierten sogenannten Nichtregierungs-Organisationen in Lateinamerika, die zum Beispiel in Bolivien und Venezuela längst ausgewiesen wurden.

Sehr aktuell auch die Erzwingung von Freihandelsabkommen und freier Kapitalzirkulation. Brasilien war erpressbar. 75 Prozent der Kaffee-Ernte gingen schon 1870 in die USA, und zollfreie US-Importe lähmten die brasilianische Industrieentwicklung. Noch 2013 machten Rohstoffe und Agrarprodukte 47, Industrieerzeugnisse aber nur 36 Prozent des brasilianischen Exports aus. Letztere produziert von Firmen ausländischen oder gemischten Kapitals, darunter rund 200 der 500 größten US-amerikanischen Unternehmen. Auch dazu Kissinger: 

„Globalisierung ist ein anderer Name für die Dominanz der USA“ 
(Sens Public, 5.3.2005).

Zur „Überlegenheit der Rasse“ und „Dominanz der USA“ gehören die Versuche, Kultur und Eigenart der Brasilianer zu beeinflussen. 1850 beginnt die forcierte Verbreitung des Protestantismus mit Hilfe US-amerikanischer Prediger. Protestantische Observanz als mentales Trampolin zu Fortschritt, zu „time is money“ und „money is god“. Frei nach der Prädestinationslehre Calvins, die kapitalistischen Erfolg und Reichtum als göttlichen Vorabkredit verbucht. Der Name des Reverend Justin Cooley Fletcher wurde Synonym der landesweiten Propagierung US-amerikanischer Religiosität. Nach dem nordamerikanischen Sezessionskrieg landeten spezielle Schifffahrtslinien etwa 15.000 amerikanische Protestanten an. Mormonen, Scientology und andere Sekten aus dem Norden komplettieren heute im Verein mit Hollywood & Co. die Pervertierung angestammten Denkens und Empfindens.

Trotz allem: Brasilien bewahrte sich beachtliche Eigenständigkeit, vor allem dank seiner kompetenten Außenpolitik. Es unterstützt unter anderem wirtschaftlich und diplomatisch die Opfer Washingtons: Kuba, Bolivien, Venezuela, Argentinien, Uruguay. Die Maxime „Universalismus, Autonomie und Nichteinmischung“ wurde seit dem Zweiten Weltkrieg durchgehalten, selbst von Seiten der per se US-nahen Militärdiktatur (1964–1982). Brasilien akzeptierte weder US-Militärbasen noch Geheimgefängnisse der CIA, auch nicht die Einbindung in die Bündnissysteme Washingtons. Das Grauen vor dem globalen US-Staatsterrorismus, vor der Kuba-Blockade, vor der US-internen Faschisierung und sozialen Polarisierung nimmt in allen lateinamerikanischen Staaten zu. Und mit diplomatisch getarnter Besorgnis beobachten sie Obamas ambivalente Annäherung an Havanna.

30 Prozent der brasilianischen Exporte gehen derzeit nach Asien; größter individueller Handelspartner ist die Volksrepublik China (17 Prozent, USA: zehn Prozent). Die USA ordnen sich im äußersten Kreis einer gedachten konzentrischen Darstellung brasilianischer Interessen ein. Den innersten Kreis belegen die bolivarisch orientierten Organisationen der lateinamerikanischen Integration: »Mercosur (Gemeinsamer Markt Südamerikas), »Unasur (Union Südamerikanischer Nationen) und »CELAC (Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten). Daneben die ebenfalls von Brasilien mitbegründete Gruppe der »BRICS-Staaten, die eine multipolare Welt- und Wirtschaftsordnung anstreben.

In ihrer festungsartigen Botschaft in Brasilia brütet jedoch die US-Botschafterin »Liliana Ayalde – als »USAID-Leiterin aus Bolivien ausgewiesen, als Botschafterin in Paraguay mitverantwortlich für den Rio-Tinto-Alcan-Putsch gegen Präsident Fernando Lugo (2012), zuvor als zweite US-Vize-Außenministerin zuständig für die Beziehungen zu Lateinamerika - einschließlich Kuba. Die Spuren schrecken.

© Wolf Gauer
São Paulo
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Foto: Senioara.org
*Wolf Gauer ist Journalist und Filmemacher. Er lebt in Brasilien und schreibt u.a. für die Zeitschrift Ossietzky, Nachfolgerin der "Weltbühne", die dem deutschen Journalismus zu Beginn des vorigen Jahrhunderts zur Ehre gereichte. Ossietzky orientiert sich strikt an diesem Vorbild (s.a. »http://ossietzky.net).



(c) Andreas Hauß, Januar 2015
http://www.medienanalyse-international.de/ueberblick.html

Im Übrigen bewundere ich Frau Klarsfeld.